Data on the Cultural and Economic Situation of Germans in Lithuania


The following has been published with permission from the original author, Klaus Fuchs. These texts provide important background and context as it relates to the list of Germans in Lithuania created in 1938 by the Lithuanian Secret Police which has been added to the IAGL’s online database. The lists themselves (which were part of the original publication) have not been included here. The publication is presented in its original German version.

This work, along with others, are available to view in person at the German National Library (Der Deutschen Nationalbibliothek) in Frankfurt and Leipzig.

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DATEN ZUR KULTURELLEN UND WIRTSCHAFTLICHEN LAGE DER DEUTSCHEN IN LITAUEN

1938



vorbereitet von Klaus Fuchs und herausgegeben zusammen mit der Landsmannschaft der Deutschen aus Litauen e.V. Remchingen und Leonberg, 2009



Einleitung

– die Akte F. 378 Ap. 12 B. 226 aus dem Litauischen Zentralen Staatsarchiv, Vilnius - Lietuvos Centrinis Valstybinis Archyvas (LCVA), Oskaro Milašiaus g., Vilnius

Die hier publizierten Daten zur kulturellen und wirtschaftlichen Daten zur Lage der Deutschen in Litauen (1938) sind das Ergebnis einer Erhebung des seinerzeitigen litauischen Staatsschutzes, die mittels einer geheimen Abfrage bei Polizei, kommunalen Behörden, Kreditanstalten und „anderen Informationskanälen“ also vermutlich Ausforschung durch den Staatsschutz selbst durchgeführt wurde. Auf die genannte Akte stieß ich während längerer Recherchen im Litauischen Zentralen Staatsarchiv durch einen glücklichen Fund im Jahre 2004, als ich die Findbücher zu dem Fundus 378 durchsah, der die umfangreiche dokumentarische Hinterlassenschaft des litauischen Staatssicherheitsdepartements, Valstybės Saugumo Departamentas (1933 – 1940) umfasst. Die vom litauischen Staatsschutz erstellten Vermögenslisten der deutschen Bevölkerung im eigentlichen litauischen Kernland – das Memelgebiet ist hier nicht enthalten – stellen eine Art Momentaufnahme der Stellung der litauendeutschen Bevölkerung in ihrem Staate zu einem Zeitpunkt dar, als sich die deutschen Minderheiten in den europäischen Ländern regten und die Revisionspolitik des Dritten Reiches ihre größten Triumphe feiern konnte. Es genügt hier, den Anschluss Österreichs im März 1938 und das Münchner Abkommen vom September 1938 zu erwähnen. Es war nur natürlich, dass auch der litauische Staat über diese Bevölkerungsgruppe genau Bescheid wissen wollte, um kalkulieren zu können, was künftig von ihr zu erwarten war. Als die akribische und äußerst arbeitsintensive Datensammlung freilich im März 1939 fertig gestellt wird, ist Litauen im Begriff das Memelgebiet wieder an das Reich zu verlieren. Die Tschechoslowakei ist im Begriff, von Hitler vollends zerschlagen zu werden. Man wird sozusagen vom Tempo der Revisionspolitik überrollt, bevor man noch dazu kommt, aus den erhobenen Daten Schlüsse zu ziehen, wie man auf die offensichtliche und durch diese starken Eindrücke beschleunigte Mobilisierung der eigenen deutschen Minderheit zu verfahren hat. Im Anschluss an die Daten der Akte LCVA 378-12-226 werden ferner noch zwei im Juni 1939 bzw. im Frühjahr 1940 entstandene thematisch verwandte, ebenfalls von litauischen Behörden verfasste Texte vorgelegt, welche ebenfalls das nun brennende Thema der deutschen Volksgruppe, die von ihr innegehabte Stellung, sozusagen ihren kollektiven materiellen und immateriellen Besitzstand behandeln. Sie beinhalten Überlegungen, wie auf die mit der Datenerhebung und noch danach getroffenen Feststellungen von staatlicher Seite zu reagieren war. Für eine Einordnung der hier publizierten Datensammlung und Korrespondenz in einen Kontext zeitgenössischer politischer Entwicklungen in Europa sei die Geduld der Leser bitte auf die diesen beiden zusätzlich hier abgedruckten Texten separat vorangestellte Einleitung (Zum zeitlichen Hintergrund…) verwiesen.

Für heutige Historiker erscheint die Akte LCVA 378-12-226 von großem Wert, da sie einen sozusagen „materiellen“ Blick in das gesellschaftliche Leben und die gesellschaftliche Stellung der seinerzeitigen litauendeutschen Volksgruppe ermöglicht: einen aus behördlichem Interesse heraus vorgenommenen Querschnitt zu einem Zeitpunkt, als das Gesetzte des Lebens zu einem Ende kommt und ganz Europa sich zu bewegen beginnt – und bis 1945 nicht mehr zur Ruhe kommt. Dieser Strudel, von der Hitler’schen Expansionspolitik angestoßen, erfasst Alles und Alle. Am Ende steht ein völlig anderes Litauen, ein anderes Deutschland, und auch die von den politischen und strategischen Entscheidungen hin und her verschobenen Menschen sind nicht mehr dieselben. Auch sie stehen, sofern sie noch am Leben sind, geradezu stumm vor einem unbegreiflichen Schicksal.

Was Memoirenliteratur nicht rekonstruieren kann, oder nur als ein Heimatgefühl wiedergeben kann, und was mit offiziellen Registern verloren gegangen ist, oder was seinerzeit in einem andren politischen System-Block und dazu in fremden Sprachen für unsere Historiker und für die Nachfahren der seinerzeit Beschriebenen nicht zugänglich war, ist hier geradezu durch eine glückliche Fügung in kondensierter und sinnvoll strukturierter Form erhalten geblieben. Es ergibt sich so ein eindrucksvolles Faktengerüst für die an der bislang nicht in der wünschenswerten Breite behandelten Geschichte der Litauendeutschen interessierten Forscher, aber auch für familiengeschichtlich Interessierte, die den Spuren ihrer eigenen Herkunft folgen möchten. Und diese Möglichkeiten entstehen geradezu ironischer Weise aus den Akten einer Behörde heraus, die in ihrer Zeit der deutschen Volksgruppe in keiner Weise wohl gesonnen war. Wir haben das 20-jährige Jubiläum des Mauerfalls gefeiert und wollen uns auch in gutem Einvernehmen mit unseren ehemaligen Nachbarn und nunmehrigen Miteuropäern verstehen. Dazu gehört auch das Verständnis für die gemeinsam verbrachte Vergangenheit.

Die Autoren der Vermögensaufstellung erklären ihre Ziele und ihre Verfahrensweisen, das Strukturprinzip nach dem sie vorgehen, im Grunde selbst. Im Grund war interessant, welche Aktivitäten deutsche Vereine in Litauen entfalteten, in welchem Maße sie sich ausländischem Einfluss ergaben, was diese Deutschen in Litauen besaßen und in welche Relation es zum Ganzen zu setzen war. Nicht zuletzt: in welchen Vermögensverhältnissen sie lebten, denn Verpflichtungen machen abhängig. Es ergibt sich das Bild eine überwiegend in Landwirtschaft, Handwerk, gelegentlich als Privatunternehmer engagierten Bevölkerungsgruppe, wofür es sowohl traditionelle als auch politische Gründe gab. Eine engere Anlehnung an den litauischen Staat war infolge von dessen Selbstverständnis als eine ethnische Herrschaft schlicht nicht möglich, so dass man den eigentlichen staatlichen und politischen Funktionen im Wesentlichen nicht als Teilhaber, sondern als ein passives Publikum gegenüber stand. Als Hausgenosse sozusagen – sich einfügend, aber das eigene kulturelle Leben nicht aus den Augen verlierend, in Schule und Kirche ein eigenes deutsches Leben pflegen wollend, häufig sich aus dem primären und sekundären produzierenden Gewerbe nährend, um von der politischen Konjunktur unabhängig zu sein. So war nicht zuletzt eine selbständige Tätigkeit in den freien Berufen eine ausgesprochene Seltenheit.

Die Akte listet zunächst das Vorgehensprinzip bei der Erhebung der Daten und betont, es werde von einer Genauigkeit der erhobenen Daten von 70 – 75% ausgegangen. Das verbleibende Maß an Unsicherheit erklärt sich aus dem Geheimmodus einer Erhebung aus zweiter und dritter Hand. Es wird zunächst ein tabellarisches Verzeichnis über die vom Kulturverband der Deutschen Litauens unterhaltenen Privatschulen (s. Tabelle I) angelegt – die Orte, wo Identität gefestigt wird. Die Vereine, Organisationen (s. Verzeichnis und Tabelle I), Bibliotheken etc. der Deutschen werden nun erfasst – die Orte, wohin man geht, um seinesgleichen zu treffen. Es werden die Handels-, Industrie- und Gewerbeunternehmen der Deutschen in Litauen nach Kreisen (s. Tabelle II und Einzelauflistung nach Kreisen) aufgelistet – wie sind die Deutschen, litauische Staatsbürger, mit der litauischen Gesellschaft verzahnt, und wo sind beide Seiten verwundbar? Die Ordnung nach den zwölf Landkreisen erfolgt dabei alphabetisch, und wir dürfen annehmen, dass dazu der jeweilige Landrat, der apskrities viršininkas vertraulich um die Einholung von Auskünften aus seinem Hoheitsbereich gebeten wurde: Die Kreise Kaunas (die Hauptstadt), Biržai, Kėdainiai, Kretinga, Marijampolė, Mažeikiai, Panėvežys, Šakiai, Telšiai, Ukmergė, Vilkaviškis, Zarasai. Vereinfacht lässt sich sagen, dass deutsche Bevölkerung, neben der Hauptstadt selbst, in dem südwestlich von (der ehemaligen Grenzstadt) Kaunas und südlich und westlich des Memelstromes gelegenen Landesteil mit den Kreisen Marijampolė, Tauragė, Raseiniai, Šakiai oder auch Vilkaviškis konzentriert war, der im 19. Jahrhundert zu „Neu-Ostpreußen“ und danach zu „Kongress-Polen“ gehört hatte und der nach 1919 ein Dreiländereck mit dem südöstlichen Teil der ostpreußischen Provinz und dem nördlichsten Zipfel Polens bildete()

Für eine Liste der Bauerngüter und  – wirtschaften der wurde dieselbe Aufteilung auf die Kreise angewandt. In den typischen südwestlichen, von Deutschen bewohnten Kreisen herrschten ausgesprochen klein strukturierte bäuerliche Wirtschaften von um die 15 ha in großer Zahl vor; die wenigen und leistungsfähigen Großbetriebe von über 50 ha oder gar über 100 ha gehörten dagegen, vermutlich in adeligem Besitz, ausgesprochen in den nördlichen und weitläufigeren Landesteil, der Nähe der lettischen Grenze zu (Tabelle IV). Das Nähere geht aus den detaillierten Tabellen und Einzellistungen selbst hervor.

Es ergibt sich aus den Unterlagen, dass in der zweiten Hälfte des Jahres 1938 die deutsche Volksgruppe in Litauen insgesamt 3463 Immobilien besaß, davon allein 2781 Landwirtschaftsbetriebe – freilich bei insgesamt 39873 ha Gesamtfläche mit einer Durchschnittsgröße von jeweils 14,3 ha. Dazu 680 andere Grundstücke und 790 Häuser (Tabelle III). Alle Besitzer wurden akribisch hin auf ihre politische Loyalität gegenüber Tautininkai-Litauen überprüft. Von diesen Besitzenden galten, und dies herauszufinden war ja letztlich ein Hauptzweck der Erhebung, 1932 (55,8%) dem litauischen Staat als loyal, 1533 hingegen als illoyal. Zitat: „Als nicht loyal gelten diejenigen, die die Gesellschaftsordnung des litauischen Staates tadeln, alles loben was deutsch ist, Beziehungen zu aktiveren Deutschen unterhalten und in ihren eigenen Unternehmen das deutsche Element protegieren.“ Man sieht, die Loyalitätserwartung des litauischen Staates war eine maximale; die Grenze zwischen dem Eigenen und dem potentiell Bedrohlichen war diesem Verständnis einer bedrohten litauischen Lage nach in das Ausüben der Kulturaktivität selbst hinein gerückt. Es war nach diesen Maßstäben nicht schwer, als illoyal zu gelten. Wie eine Erhebung unter dem eigentlichen Staatsvolk des infolge schwerer außenpolitischer Rückschläge gebeutelten litauischen Tautininkai-Staats ausgefallen wäre, ist nicht bekannt.

Ferner existierten in der Hand von 283 Eigentümern 254 weitere Unternehmungen unterschiedlichster Art, die sowohl tabellarisch (Tabelle II), als auch nach Kreisen geordnet erfasst sind. Von diesen Eigentümern galten 163 (57,6%) als dem Staat loyal, in welchem sie lebten, 120 dagegen als nicht loyal: Eine ganz vergleichbare Stimmung. Diese 254 Unternehmungen beschäftigten laut Tabelle insgesamt 768 Menschen, von denen freilich nur 62 (8,1%) als nicht loyal galten. Offensichtlich beschäftigte man bei weitem eben nicht nur Deutsche; und vielleicht mag auch bei den Besitzenden selbst, die Entscheidungen trafen, das vom ethnischen zum nunmehr ethno-politischen gewandelte Bewusstsein ausgeprägter gewesen sein. Das Vorhandensein einer loyalen Mehrheit und zugleich einer sehr starken, als bereits illoyal erachteten und womöglich unter dem Eindruck möglicher weiterer politischer Gewinne des Reiches, oder anderer Ereignisse, noch wachsenden unzufriedenen und als unzuverlässig erachteten Minderheit konnte die litauischen Behörden nicht beruhigen. Offensichtlich war diese Loyalität noch stabil, aber nahe dem Kipppunkt. Ein Umschlagen konnte oder in der einen oder anderen Weise die offensichtlich eingetretene Bedrohungslage für das Staatswesen vertiefen. Eine solche Minderheit stand notwendig in dem latenten Verdacht, mit einer bedrohlichen fremden Macht zu kollaborieren – oder ihrem Staat, wo er sich als zum Zusammenhalt unfähig erwies, den Rücken zu kehren.

Auch die Verschuldung der einzelnen bäuerlichen Wirtschaften und Immobilien besitzenden Haushalte interessierte; und hier interessierte auch, ob die Schulden bei vom litauischen Staat kontrollierten Banken getätigt wurden. Die hatte zweifellos Rückwirkungen auf die Mobilität der Menschen, wie auch auf ihre politische Beeinflussbarkeit. Den Löwenanteil der Kreditierung stellte hier erwartungsgemäß die auf die agrarische Kreditierung spezialisierte Žemės Bankas, bei der 33,5% der gesamten Schulden in Höhe von 1.193.893 Litas angehäuft worden waren. (2) Dass aber sogar 40,6% dieser Summe nicht Banken, sondern Privatpersonen geschuldet waren, spricht wohl für einen gewissen Kapitalmangel, eine gewisse Schwachbrüstigkeit des organisierten Kreditwesens. Dass Kredite, wie es für das Memelgebiet typisch war, auch hier an ethno-politische Loyalitätsbekundungen gebunden wurden ist denkbar, erwiesen ist es nicht. Auch die Steuerschulden wurden anteilig mit erfasst. Lokal fallen besonders ins Gewicht die Verschuldung der Landwirte in den Kreisen Šakiai mit 37,6% an der Gesamtsumme, sowie Tauragė mit 25,1% und Kėdainiai mit 8,6% ins Auge (Tabelle III). Es scheint auch, dass gerade die großen Güter im nördlichen Litauen durchweg verschuldet waren. Solange freilich Vergleichsmöglichkeiten fehlen, wäre jede tiefer gehende Aussage Spekulation, und so kann bislang das ökonomische Bild der deutschen Volkgruppe nur sozusagen in sich selbst ruhend und ohne die nötige Relation zu einer Gesamtökonomie betrachtet und allenfalls auf die Sozialstruktur der Gruppe selbst Rückschlüsse gezogen werden, das freilich durchaus präzise. In dieser Hinsicht bietet der Text vor allem, wo zusätzliche Quellen aufgetan werden können, eine gute Basis für die weitere und sehr wünschenswerte Forschung. 

Die politischen Implikationen freilich, nach denen diese Untersuchung schließlich vorrangig strebte, sind einigermaßen deutlich. In der zweiten Hälfte des Jahres 1938 war die deutsche Volksgruppe von der Politik des Reiches beeindruckt, und sie löste sich aus ihrer bisherigen relativen Passivität. Ob freilich von der deutschen Politik, auf die man nun verstärkt schaute und der man sich schließlich anglich, eine vielleicht erwartete Festigung des Deutschtums in Litauen ausgehen würde, oder ob sich das Deutschtum aus dieser Region zurückziehen würde, war noch offen. Mit dem Niedergang der Ordnung von Versailles war diese Frage einer neuen Ordnung der zwischen den beiden großen totalitären Mächten liegenden Staatenlandschaft in Osteuropa erst eröffnet worden. Auch Kaunas blickte besorgt, und dokumentierte; aber es entschieden Berlin und Moskau.

Der Wert der Akte LCVA 378-12-226 für einen breiten Kreis von Historikern und Interessierten hat die Landsmannschaft der Deutschen aus Litauen bewogen, eine Übersetzung des Textes zu finanzieren und diese Ausgabe zu unterstützen und zu begleiten. Dafür sei ihr mein Dank ausgesprochen. Übersetzt hat den Text, in gewohnter Qualität, Frau Nora Drulienė. Auch ihrer Leistung gebührt die geschuldete Anerkennung. Der Text soll mit der Aufnahme in die Deutsche Nationalbibliothek allen beruflich und privat Interessierten in deutscher Sprache zur Verfügung gestellt werden.

  

Remchingen, im November 2009

Klaus Fuchs


A U S K U N F T ÜBER ORGANISATIONEN DER DEUTSCHEN IN LITAUEN

Tabelle I - Aufgenommen am 15. April 1938

Tabelle I - Aufgenommen am 15. April 1938

Kaunas, den ____ März 1939

Geheim

Daten zur kulturellen und wirtschaftlichen Lage der Deutschen in Litauen.

I.               Auskunft über Organisationen der Deutschen in Litauen:
den Kulturverband, konfessionelle und andere Organisationen, Schulen (Gymnasien, Mittelschulen, Grundschulen), Asyle, Kloster, Sportorganisationen, Bibliotheken, Buchhandlungen und Lesestuben
(Tabelle I), ermittelt Anfang 1938.

II.             Auskunft über die wirtschaftliche Lage der Deutschen in Litauen
eingeholt in der zweiten Hälfte des Jahres 1938 durch Polizei, Organe der Selbstverwaltung, Kreditanstalten und andere Informationskanäle.

1.           In der Tabelle (II) zu Handels-, Industrie- und Gewerbeunternehmen der Deutschen in Litauen werden nach Kreisen erfasst:
Fabriken und Werkstätten, Mühlen und Sägewerke, Bierbrauereien und Kornbrennereien, Ziegeleien, Kraftwerke, Aktiengesellschaften, Auswandererbüros und Speditionskontore, diverse Läden, Buchhandlungen, Apotheken, Lichtspieltheater, Frisiersalons, Viehhändler und Handelsvertreter.
Eigentümer und Beschäftigte aller dieser Unternehmen werden Gruppen von loyalen und nicht loyalen zugeordnet.
Als nicht loyal gelten all diejenigen, die die Gesellschaftsordnung des litauischen Staates tadeln, alles loben, was deutsch ist, Beziehungen zu aktiveren Deutschen unterhalten und in ihren eigenen Unternehmen das deutsche Element protegieren.

2.           In der Auskunft über die Bauerngüter und Hauswirtschaften der Deutschen in Litauen (Tabelle III) nach Kreisen ist die Verschuldung der landwirtschaftlichen Grundbesitzer dargestellt: Gesamtverschuldung, davon an die Landesbank (Žemės bankas), die Litauische Bank (Lietuvos bankas), die Wirtschaftsbank (Ūkio bankas), an kleine Kreditanstalten, deutsche Kreditanstalten; ausstehende Staatsabgaben und Verschuldungen an Privatpersonen.

3.           Die Tabelle IV enthält die Aufteilung von in einzelnen Kreisen bestehenden Bauerngütern der Deutschen nach ihrer Größe in Hektar.

Den Tabellen folgt eine detaillierte Beschreibung und eine Liste von verschuldeten Deutschen.

Als Deutsche galten bei der Ermittlung dieser Auskunft all diejenigen, die in ihre Landesausweise deutsche Nationalität haben eintragen lassen und die in ihrem praktischen Leben ihr Deutschtum öffentlich zur Schau stellen, d.h. zu Hause deutsch reden, deutschen Organisationen angehören und ihre Kinder deutsche Schulen besuchen lassen.

Obwohl die Daten auf unterschiedliche Weise ermittelt wurden, wird ihre Präzision durchschnittlich 70-75%% betragen.

Es ist zu bemerken, dass die politische Einstellung des deutschen Elements nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus in Deutschland an Aktivität bedeutend  zugenommen hat und insbesondere nach dem Anschluss Österreichs und tschechoslowakischer Gebiete an das Reich. Zu Zeiten der deutschen Demokratie verhielten sich die meisten deutschen Einwohner der litauischen Grenzgebiete passiv, demonstrierten keine große Aktivität, in der letzten Zeit hingegen haben sie ihre politische Einstellung deutlich zugunsten des Deutschen Reiches geändert.


Verzeichnis von Kulturorganisationen der Deutschen in Litauen

 

I. Kulturverband der Deutschen in Litauen

 In der Zentralverwaltung in Kaunas, Vytauto Prosp. 41 sind 5 Angestellte tätig.

In ganz Litauen hat der Verband 2500 Mitglieder.

  1. Abteilung der Stadt Kaunas, Vytauto Prosp. 24 a hat 500 Mitglieder

  2. Abteilung der Stadt Kėdainiai ............................. hat 15 Mitglieder

  3. Abteilung der Stadt Marijampolė ........................ hat 83 Mitglieder , einen Lesesaal, ein
    Radio, diverse Spielmittel

  4. Abteilung Kalvarija, Kreis Marijampolė .......... hat 30 Mitglieder und eine Lesestube

  5. Abteilung Dorf Šilavotas, Amtsbezirk Liudvinavas,
    Kreis Marijampolė ............................................... hat 50 Mitglieder und eine Buchhandlung

  6. Abteilung Kudirkos Naumiestis, Kreis Šakiai hat 60 Mitglieder und eine Buchhandlung
    mit 300 Bänden

  7. Abteilung Šakiai, Kreis Šakiai ....................... hat 30 Mitglieder

  8. Abteilung Dorf Kaupiškis, Amtsbezirk Vištytis,
    Kreis Vilkaviškis hat 21 Mitglieder, eine Buchhandlung
    mit 111 Bänden und in Vištytis -
    mit 61 Bänden

  9. Abteilung Vilkaviškis, Kreis Vilkaviškis hat 40 Mitglieder und eine Buchhandlung

  10. Buchhandlung der ehemaligen Abteilung Kybartai,
    Kreis Vilkaviškis hat 170 Bände und ein Radio.
    Sie wird geleitet vom Instruktor der Handwerks-
    abteilung des Verbandes Richardas-Voldemaras
    Šveiceris.

  11. Abteilung Stadt Šiauliai, Kreis Šiauliai .............. hat 30 Mitglieder

  12. Abteilung Skuodas, Kreis Kretinga ................. hat 27 Mitglieder und eine Buchhandlung

  13. Abteilung Tauragė, Kreis Tauragė .................... hat ca. 45 Mitglieder und eine
    Buchhandlung-Lesestube

  14. Abteilung Meldekviršiai, Kreis Tauragė .......... hat ca. 100 Mitglieder

  15. Abteilung Ž.Naumiestis, Kreis Tauragė .......... hat ca. 30 Mitglieder

  16. Abteilung Švėkšna, Kreis Tauragė ................. hat ca. 25 Mitglieder
    (zu 14,15,16 : Instruktorin verdient 260 Lt, Sekretärin 50 Lt)

  17. Abteilung Raseiniai, Kreis Raseiniai ............... hat ca. 20 Mitglieder

  18. Abteilung Stadt Jurbarkas, Kreis Raseiniai ..... hat ca. 125 Mitglieder

  19. Abteilung Stadt Lydavėnai, Kreis Raseiniai hat ca. 30 Mitglieder

  20. Abteilung Tytuvėnai, Kreis Raseiniai hat ca. 20 Mitglieder
    (zu 17, 18,19, 20: von genannten Organisationen bestreiten ihren Lebensunterhalt zwei Lehrer)

Anmerkung: der Verband besitzt in Kaunas ein großes zweistöckiges Gebäude, in dem sich ein privates deutsches Gymnasium befindet. Der Verband gibt eine Zeitung „Vokiečių žinios Lietuvoje“ („Deutsche Nachrichten in Litauen“) heraus, Redaktionsanschrift: Vytauto Prosp. 41, die Auflage beträgt 2000 Exemplare. Der Verband hat in Kaunas, in der Vaičaičio Str. 7d ein Schülerwohnheim, dort sind 35 Schüler des deutschen Gymnasiums untergebracht. Am Verbandszentrum und am deutschen Gymnasium gibt es Sparkassen.

II. Konfessionelle Organisationen, Verbände

  1. Abteilung des deutschen evangelisch-lutherischen Jugendverbandes
    der Stadt Tauragė hat 26 Mitglieder

  2. Abteilung des deutschen evangelisch-lutherischen Frauenvereins
    „Tabeos“ der Stadt Tauragė hat 46 Mitglieder

  3. Abteilung des deutschen evangelisch-lutherischen Vereins
    „Pašalpa“ der Stadt Tauragė hat 40 Mitglieder

  4. Verein der Stadt Šiauliai zur Pflege von evangelischen
    kirchlichen Bauten hat 15 Mitglieder

  5. Deutscher evangelisch-lutherischer Jugendverband Kybartai,
    Kreis Vilkaviškis hat 22 Mitglieder

  6. Deutscher evangelisch-lutherischer Jugendverband Virbalis,
    Kreis Vilkaviškis hat 24 Mitglieder

  7. Deutscher evangelisch-lutherischer Verein Virbalis,
    Kreis Vilkaviškis (passiv)

  8. Deutscher evangelisch-lutherischer Frauenverein der Stadt Kybartai,
    Kreis Vilkaviškis hat 49 Mitglieder

  9. Abteilung des Abstinenzvereins der Episkopal-Methodistenkirche
    der Stadt Kybartai, Kreis Vilkaviškis hat 49 Mitglieder

  10. Abteilung des deutschen evangelisch-lutherischen
    Jugendverbandes Lydavėnai, Kreis Raseiniai hat 25 Mitglieder

  11. Deutscher evangelisch-lutherischer Frauenverein Virbalis,
    Kreis Vilkaviškis hat 50 Mitglieder

  12. Deutscher evangelisch-lutherischer Frauenverein der Stadt
    und des Kreises Marijampolė hat 40 (?) Mitglieder

III. Andere Verbände, Vereine 

  1. Deutscher Handwerkerverband Kaunas hat 50 Mitglieder

  2. Verein deutscher Studenten der Vytautas-Magnus –Universität Kaunas hat 27 Mitglieder

  3. Deutscher Kleinkredit-Verein hat ca. 200 Mitglieder
    (ca. 90 000 Litas sind als Kredite verliehen worden)

  4. Verein der Stadt und des Kreises Šiauliai zur Unterhaltung einer
    deutschen Schule hat 15 Mitglieder

IV. Pfarrgemeinden und Tochterpfarreien

  1. Pfarrgemeinde Skuodas, Kreis Kretinga hat 1000 Mitglieder: 50% Litauer, 25% Deutsche
    und 25% Letten

  2. Pfarrgemeinde Kretinga, Kreis Kretinga hat 1500 Mitglieder: 80% Litauer, 20% Deutsche

  3. Pfarrgemeinde Būdingė, Kreis Kretinga hat 1500 Mitglieder: fast ausschließlich Letten

  4. Tochterpfarrei Palanga, Kreis Kretinga hat 200 Mitglieder : fast ausschließlich Letten

  5. Tochterpfarrei Gargždai, Kreis Kretinga hat 100 Mitglieder : die meisten sind Litauer

  6. Die (evangelische-lutherische) Kirche Telšiai, Kreis Telšiai besuchen zu 80 % Litauer, der Rest sind Letten und Deutsche. Der Gottesdienst wird vom Pfarrer der Pfarrgemeinde Skuodas abgehalten. Der Gottesdienst findet vier- bis fünfmal pro Jahr statt.

V. Schulen

  1. Deutsches Gymnasium der Stadt Kaunas, Vytauto Prosp. 24 a hat 200 Schüler, 27 Lehrer, am Gymnasium gibt es eine Bibliothek

  2. Mittelschule Kybartai, Kreis Vilkaviškis hat 7 Lehrer
    Grundschule der Stadt Kaunas

  3. Grundschule Šančiai, Kreis Kaunas

  4. Grundschule der Stadt Kėdainiai, Kreis Kėdainiai hat 14 Schüler, 1 Lehrer

  5. Private Grundschule Ž.Naumiestis, Kreis Tauragė hat 8 Schüler, 1 Lehrer

  6. Private Grundschule der Stadt Raseiniai, Kreis Tauragė hat 19 Schüler, 1 Lehrer

  1. Private Grundschule der Stadt Lydavėnai, Kreis Tauragė hat 20 Schüler, 1 Lehrer
    (zu 7, 8: an den Schulen gibt es kleine Buchhandlungen)

  2. Zweiteilige Grundschule der Stadt Skuodas, Kreis Kretinga hat 30 Schüler, 2 Lehrer und eine Buchhandlung

  3. Private Grundschule der Stadt Šiauliai, Kreis Šiauliai hat 30 Schüler, 2 Lehrer

  4. Zweiteilige, von der Stadt Vilkaviškis verwaltete Grundschule,
    Kreis Vilkaviškis hat 50 Schüler, 2 Lehrer

Anmerkung: alle genannten Schulen werden vom deutschen Kulturverband Litauens unterhalten, ausgenommen die deutsche Grundschule der Stadt Kėdainiai, die von der lokalen deutschen Pfarrgemeinde unterhalten wird. Außerdem unterrichtet man an der zweiteiligen, von der Stadt Vilkaviškis verwalteten Grundschule in litauischer und deutscher Sprache.

VI. Asyle, Klöster

  1. Deutsches Asyl der Stadt Kaunas, Vaičaičio Str. 7d hat 4 Angestellte.

  2. Deutsches Altenasyl Gut Šarkė, Amtsbezirk Skuodas, Kreis Kretinga betreut 21 Personen, hat 3 Angestellte und einen Verwalter. Das Asyl besitzt 50 ha.

  3. Kapuzinerkloster Plungė, Kreis Telšiai: 5 deutsche Mönche und 30 litauische Kleriker-Novizen. Das Kloster hat ein Wohnheim, in dem 100 Schüler des Ortsgymnasiums wohnen, und eigenes Land.

VII. Sportorganisationen 

  1. Deutscher Sportverein Kybartai, Kreis Vilkaviškis hat 33 Mitglieder

  2. Deutscher Sportklub der Stadt Kaunas „Olimpija“ hat 40 Mitglieder und 240 Personen, die nur den Mitgliedsbeitrag zahlen.

 

           

Aufgenommen am 15. April 1938         


Auskunft über Handels-, Industrie- und Gewerbeunternehmen der Deutschen in Litauen  1938

Tabelle II

Tabelle II

Auskunft über Bauerngüter und Hauswirtschaften der Deutschen in Litauen 1938

Tabelle III

Tabelle III

Bauerngüter der Deutschen in Litauen nach ihrer Größe

Tabelle IV

Tabelle IV


Zum zeitlichen Hintergrund der beiden zusätzlichen Dokumente (1939- 1940) über die Lage der deutschen Minderheit in Altlitauen

Die im Folgenden zusätzlich wiedergegebenen beiden Akten gehören ebenfalls in den Fundus 378 (litauischer Staatsschutz) im Litauischen Zentralen Staatsarchiv LCVA, Vilnius, und betreffen ebenfalls das Thema der deutschen Volksgruppe. Eine Benennung nach ihrer Herkunft etc. ist nicht mehr möglich, weil im Original die Titelblätter fehlen. Das frühere der beiden Dokumente, ein Protokoll einer Besprechung „interessierter Behörden“, also vermutlich der Vertreter von Innenministerium, Staatsschutz und Bildungsministerium, datiert vom 7.6.1939 und spricht die Ausrichtung der Organisationen der Auslandsdeutschen an, und den Stand ihres Wirkens, welche, so wussten es diese Behörden, im Januar durch Weisung des Volksbundes für das Deutschtums im Ausland auf nationalsozialistische Prinzipien eingestellt wurde. Als zentrale einigende Stelle, die die insbesondere kulturellen Aktivitäten in Litauen organisierte, trat der Kulturverband der Deutschen Litauens nun in immer größerer Stärke auf.  

Freilich hatten auch die Litauendeutschen bereits 1933 das Interesse der deutschen Nationalsozialisten erweckt, wenn sie neben den Problemen der Memelländer auch eine mindere Rolle spielten. Die Organisierung und Mobilisierung der Auslandsdeutschen, sozusagen als Resonanzboden für die Revisionspolitik des Reiches, wurde integraler Politikbestandteil, ja Chefsache. Die Transformation der auslandsdeutschen Vereine, Organisationen etc. von reinen Kulturvereinen ohne politischen Anspruch hin zu auf das Reich hörenden quasi-politischen Vertretungen erscheint als ein schleichender Prozess, der in den litauischen Akten bemerkenswert wenige Spuren hinterlässt. Denn das Verdächtige wurde hier sozusagen unter der Maßgabe der abweichenden Ethnie betrachtet, die schon per se in den ethnisch gedachten Staat – das Haus der Litauer sozusagen – schlecht passte. Die Politik an sich, die sich dem Reich angleichende Gesinnung, galten hier zunächst nur als neue Ausdrucksformen des störenden Phänomens Fremdheit, der Nationalsozialismus mithin im wesentlichen als eine besonders akute Ausprägung des Phänomens Deutschtum. Der eigentliche Gesinnungsgehalt wurde unter dem Aspekt betrachtet, was er konkret für das litauische Staatswesen und das litauische Volk bedeutete; ebenso wie viele Auslandsdeutsche umgekehrt in der Überzeugung gehandelt haben werden, eben – in seiner Zeit – „das gegebene Deutsche“ zu tun, das als ein Ganzes eben unter einer bestimmten vorherrschenden Gesinnung lebte und strukturiert wurde. War von der Seite der nunmehrigen Reichsdeutschen Politik die Gleichsetzung und Vermischung von Nationalsozialismus und Deutschtum eine bewusste, so wurde umgekehrt bei den nunmehr von deutscher Politik betroffenen anderen Völkern der Nationalsozialismus als eine zeitgeistige, aber eben vor allem als eine deutsche Nationalideologie angesehen, die letztendlich als ein Ausdruck der Interessen eines größeren Deutschtums betrachtet werden musste. 

Das Neue wurde in Litauen, wen man dies als aussagekräftig auch für andere Staaten setzen darf, also weniger im ideologisch neuen der Gesinnung als vielmehr in der strikt neuen, viel effektiveren und strikten, disziplinierten, auf die ethische Eigengruppe zugreifenden Organisationsform gesehen. Es war nicht in erster Linie gefährlich, weil es anders dachte, sondern weil es besser bündeln und disziplinieren konnte und somit von einem losen Verband zu einem harten Interessenfaktor wurde. Dass man insbesondere unter dem Eindruck des warnenden österreichischen Anschlusses (1938) und dem Abpressen des mehrheitlich deutsch besiedelten Sudetengebietes nun Bescheid wissen wollte und musste, wen man da im Hause hatte, und ob dieser reichsdeutsche Interessen ins Land bringen konnte, war mehr als verständlich. Vorher hatte dafür schlicht keine Notwendigkeit bestanden, diese Volksgruppe besonders ernst zu nehmen, und sie war auch nicht mit ähnlicher behördlicher aggressiver Aufmerksamkeit bedacht worden wie etwa die litauischen Polen, deren Wirken und wirtschaftliche Stellung (3) als eine regelrechte Gefahr für die Formierung eines litauischen Staatsvolkes und damit als eine Gefahr für den litauischen Charakter des Staates selbst begriffen wurde.

Denn diese deutsche Bevölkerung, die zum Zeitpunkt der Aussiedelung mit ca. 50.000 Personen beziffert wurde, war weder zahlreich, noch kompakt angesiedelt, noch  hatte sie politisch irgendein Sagen. Wo sie ökonomisch stand, vor allem in Landwirtschaft und Handwerk, und dass sie, im Einzelfall vielleicht durchaus wohlhabend, als Gruppe nicht dominant werden konnte und gewissermaßen stets in ein litauisches Umfeld eingebettet war, mit dem sie in Abhängigkeitsbeziehung stand, geht wohl aus den Vermögenslisten überzeugend hervor. Politische Vereinigungen, so sie denn gewollt waren, konnten nicht gebildet werden.

Mit Ausnahme vielleicht der jüdischen Gemeinde erkannte der – über weiteste Strecken parlamentslose – straff nationalautoritäre und stark militarisierte litauische Staat der Smetona-Zeit keine Kulturorganisationen als politische Vertretungen von Minderheiteninteressen an. Es gab keine Frage, wer der Hausherr war – auch wenn das litauische Staatsvolk unter einem Mangel an individuellen Bürgerrechten litt, war es mit seiner dominanten Stellung als staatsbildende Ethnie, die auch in ihrem Staat alle ökonomischen und privilegierten beruflichen Nischen eher früher denn später auszufüllen gedachte, sehr zufrieden und akklamierte in seiner breiten Masse die staatliche Einstellung gegenüber den Minderheiten. Und überdies – in einem durch und durch agrarischen Staat, dessen innere Landesentwicklung durch zentralisierten Agrarexport erwirtschaftet werden musste, und wo mangels anderer Strukturen schlicht der Staat der Generalunternehmer und notwendig universaler Geber von Lohn, Brot und Aufstieg wurde, da war der Ruf nach der Privilegierung des Staatsvolkes in allen Bereichen durchaus verständlich. In beruflicher Hinsicht bedeutete dies für Deutsche, Handwerker oder Landwirte zu bleiben und so einer Art des unabhängigen Einkommens jenseits der politischen Konjunktur zu haben, während die Vertrauensstellen in Staatsdienst und Armee nach und nach praktisch vollständig mit Litauern besetzt wurden.

Spezifische Rechte konnten allenfalls von Individuen geltend gemacht werden, und die Berechtigung musste individuell nachgewiesen werden – mindestens mit einem Passeintrag zur  nichtlitauischen Volkszugehörigkeit. Und erst über diese konnten Quoten erstellt werden, ob zum Beispiel Minderheitenschulen genehmigt würden etc. Nicht setlten wurde die individuelle Volkszugehörigkeit bestritten und sozusagen objektives Litauertum konstatiert. Es war keineswegs Ziel der litauischen Staatsmacht, das Abweichende zu fördern oder zu erhalten. Banalitäten genügten für eine Beschneidung solcher Rechte, falls das Bildungsministerium sie nicht gewähren mochte: es mochte schon eine litauische Schule in der Nachbarschaft bestehen, oder die sanitären Bedingungen wurden moniert, usw. Man war, mit der notablen Ausnahme des recht eindeutig ethnisch und religiös definierten Judentums, in seiner ethnischen Identität doch recht prinzipiell gefährdet, weil prinzipiell als eine Art vorübergehender Anomalie lediglich geduldet -   nach behördlichem Diktum galt man ggf.  als „vorbewusster“ (nesusipratęs) Litauer, man war durch eine Art unbedarfter Unachtsamkeit, schuldhafte Vernachlässigung des Volkstums, dem eigentlichen (nämlich litauischen) „Volkstum entfremdet“ (nuntautintas), man war polonisiert (sulenkėjęs), man war eingedeutscht (suvokietėjęs) etc., was häufige behördliche Praxis war. Die Doktrinen der Verneinung des Existenzrechtes des Abweichenden als solchen waren in Tautininkai-Litauen gerade von staatlichen Behörden recht elaborat ausgearbeitet, wobei stets das sozusagen Unnatürliche der Abweichung bewiesen werden sollte: Litauertum war der berechtigte Naturzustand.

Das Partizip Aktiv, das in den litauischen charakterisierenden Ausdrücken für das ethnisch Verdächtige, nicht Normgerechte, so häufig wiederkehrt, drückt insofern vor allem eine Art Unterlassungssünde aus, der eigentlichen ethnischen Zugehörigkeit des Landes nicht die ideelle Treue gehalten zu haben, das verbindliche Paradigma eindeutig litauischer Identität verlassen zu haben, die falsche Sprache oder Sympathie zu pflegen. Entsprechend hatte der litauische Staat, der sich als Werkzeug der Interessen des Litauertums verstand, das souverän bestimmte Recht und die Pflicht, die verlorenen Glieder rückzuassimilieren. Ja, er machte sogar eine regelrechte Verpflichtung geltend, diesen ihre „richtige“ Identität zurückzugeben. Kurz gesagt, in seiner Blüte Anfang-Mitte der 1930er Jahre war das Smetona-Regime stark genug, Minderheiten offensiv in einen litauisch-ethnischen Staat hinein zu assimilieren, dessen eigentliches Ziel die ethnische Idylle der Selbstverwirklichung in einem ethnisch geprägten, ethnisch bereinigten, monokulturellen, stabilen und gegen fremde Einflüsse widerstandsfähigen (atsparus) Staat war. Die deutsche Volksgruppe in Altlitauen wurde von der etwas schikanösen und mißtrauischen Aufmerksamkeit des Zentralstaates insbesondere dann betroffen, als (1934) die Spannungen über das Memelgebiet ihrem Höhepunkt zustrebten und offene Antipathie gegen alles Deutsche auch unter der litauischen Landbevölkerung spürbar wurde, die ihrerseits von ihren Behörden verlangte, der deutschen Bevölkerungsgruppe gegenüber eine Herrenstellung zu demonstrieren und sie sozusagen in einem litauischen Staat auf ihren minderen Platz als Hausgenossen zu verweisen. Deutsche in öffentlichen Vertrauensstellungen mit irgendeiner Form der Autorität über Litauer waren in jener Zeit wenig gerne gesehen.  Und man schuf sich ohnehin die entsprechenden Verfügungsdoktrinen, die Minderheitenrechte praktisch zu vorübergehenden Erscheinungen machten, und setzte diese insbesondere in der Schulpolitik auch um. Die fremde Schulsprache wurde Domäne der Privatschule, die eigener Trägervereine bedurfte, die den Vereinsgesetzen unterlagen, und deren Mitglieder wiederum den Passgesetzen. An jeder Stelle dieser Kette war der Staat in der Position, Rechte nach Gutdünken zuzudosieren und administrative Macht zu demonstrieren. Die Wirklichkeit zu diktieren, wenn man so will. Am Ende der Dekade erscheint dies nun überraschender Weise, unseren Texten folgend, kaum noch möglich: litauische Stellen beobachten, was die Deutschen tun. Ja, die Verhältnisse haben sich geradezu umgekehrt. Aber die Bedrohung verkehrt sich in einen Exodus.

Interessant ist die in beiden Texten hervortretende Tendenz einer Gleichsetzung des Protestantentums mit dem Deutschtum der ursprünglichen deutschen Kolonisten. Von Seiten der Deutschen wird diese Identität von Religion und Ethnie geradezu selbstverständlich angenommen, genauso wie umgekehrt der litauische Staat beständige Versuche unternimmt, das Protestantentum vom Deutschtum in geradezu künstlicher Weise und mittels recht grober politischer Einmischung zu trennen. Offenbar wurde davon ausgegangen – Schule und Kirche in der Muttersprache erweisen sich als die unverrückbaren Pfeiler der Identität – dass eine ethnische Gruppe ohne größere Probleme assimiliert werden könne, zumal wo sie als ursprüngliche agrarische Kolonisten und Handwerker über relativ wenige Angehörige in Bildungsberufen verfügte, kaum aus ihrem Milieu ausbrechen konnte, wenn man das Phänomen der Identitätsbewahrung über eine „ethnische Religion“ als doppelt begründete Identität ausschlösse und die religiöse Eigenorganisation und Selbstbestimmung durch staatliche Aufsicht und Gottesdienste in der Landessprache, Förderung ethnischer Litauer in den Gremien der Gemeinden und deren Bestimmung über kirchliches Vermögen, ersetze. Klassisches Beispiel einer äußersten Widerstandsfähigkeit der Verbindung von Religion und Ethnie sind nun einmal bis heute die Juden, und auch der litauische Staat machte niemals (im Gegensatz zum Umgang mit anderen Minderheiten) irgendwelche Versuche, diese zu assimilieren. Indem der Staat ihren evangelischen Glauben als eine Bastion ihrer Identität begriff, sah sich die deutsche Volksgruppe besonders Anfang – Mitte der 1930er Jahre auch hier starkem Druck ausgesetzt.

Die Verbindungen von Intentionen der neuen reichsdeutschen Politik zu den auslandsdeutschen Volksgruppen wurden schon ab 1933, da die Nationalsozialisten sich interessierten, als eine Art loser Gesinnungsverwandtschaft, die durch vordergründig unabhängige Mittlerinstitutionen gestaltet wurde, dargestellt – denn der übergreifende Volkstumsgedanke als weltanschauliche und schließlich auch politische Idee hätte sich kaum mit staatsrechtlichen Normen vereinbaren lassen. Eine direkte Transmission NS-deutschen politischen Willens in das Leben der auslandsdeutschen Minderheiten und in das innere Leben der Staaten hinein, in denen sie lebten, widersprach schließlich allen internationalen Gepflogenheiten. Aus dem unbedarften ethnischen Gemeinschaftsverein wurde ein schlagkräftiges Instrument. Doch man folgte einem fremden Willen und hatte kaum zu entscheiden, wohin man eigentlich strebte. Besonders problematisch, weil sozusagen kein Zweck erkennbar war, war dies wo man nicht in geschlossenem Siedlungsgebiet mehrheitlich und kompakt lebte – da konnte man, an eigenen, im Grunde nur defensive, bewahrende Ziele haben. Das lokale Führungspersonal musste eigenständig und in Vertretung der Interessen der Minderheit gegenüber der jeweiligen Regierung des Gesamtstaates agieren, welche in den 1930er Jahren im historisch noch kaum „gesetzten“ Mittel-Osteuropa zumeist das Ideal eines ethnisch und kulturell homogenen und damit stabilen Staates anstrebten und mit der seltenen Ausnahme der Tschechoslowakei meist auch rechtsautoritäre, nationalistische Regime entwickelten. Bei unlösbaren Konflikten mischte sich das Reich gegebenenfalls zugunsten der Interessen der Minderheit ein.

Die Lage der Deutschen in Altlitauen lässt sich freilich in keiner Weise mit der etwa der Sudetendeutschen vergleichen, allein schon weil es kein geschlossenes mehrheitlich deutsches Siedlungsgebiet und keine entsprechenden separatistischen Forderungen gab. Es scheint durchaus, dass die Vielfalt und das Erblühen der deutschen Vereine, die der Text vom 7.6.1939 ausweist, durchaus noch in einer Situation Sinn macht, wie sie die ursprüngliche Fassung des Hitler-Stalin-Paktes schließlich vorsah: Litauen im deutschen Machtbereich, vielleicht als eine Art agrarisches Halbprotektorat. Ein Prägungsanspruch, zu dem die straffe Organisierung der Minderheit schließlich führen muss, ist nur in einer deutlich „deutscheren“ Umgebung denkbar. Allenfalls hätte eine solche stark organisierte Minderheit eine Rolle spielen können, wäre Litauen unter deutsche Herrschaft gekommen; oder aber, als Litauen schließlich (1940) unter sowjetische Herrschaft kam, war die Minderheit aus dem nicht kontrollierten Raum zu evakuieren, unter der Maßgabe, sie dem Deutschtum zu erhalten. (Unter einem solchen Organisationsgrad konnte man eigentlich nur kollektiv angreifen, oder kollektiv gehen.) 

Das Bild, das der Text aus dem Jahre 1940 zeigt, sieht schon völlig anders aus. Hier wird die Minderheit von Werbern gezielt agitiert und auf eine geschlossene Aussiedelung im Kollektiv vorbereitet. Folglich haben sich auf höchster Ebene, zwischen der UdSSR und dem Reich, die Prämissen geändert. Und charakteristischer Weise wissen die betroffenen Menschen nichts Konkretes, treffen Entscheidungen nach Maßgabe des wahrscheinlich Scheinenden, verkaufen Unbewegliches und legen ihre Werte in beweglichem Gut an. Sie sind, so organisiert sie auch sind, nur Spielball für größere Kräfte – zu denen das umgebende, nunmehr nur noch Gastland Litauen offenbar nicht mehr gehört.

Hier hin, dorthin, man wartet auf den Ruf.  Zum Teil werden in Erwartung des Endes der Geschichte der Deutschen in Litauen, in hitziger Spekulation auf das Kommende, die Äcker nicht bestellt. Und charakteristisch ist auch die Lage des litauischen Staates, eigentlich eines Rest-Litauen nach dem Verzicht auf die Ambitionen in Wilna und dem nach dem Verlust Memels. Über seine Bevölkerung wird in summa wie auch im Einzelnen im Grunde bereits von Anderen verfügt; seine Stellen beobachten, notieren akribisch, ziehen präzise und folgenlose Schlüsse: Ändern, aktiv gestalten können sie (1940) nichts mehr.

Wie insbesondere der spätere der beiden Texte zeigt, wurde im Sinne eines solchen Zusammenhaltes durchaus mit den Methoden der unrealistischen Lockung wie auch der Einschüchterung, ja der Angstmache gearbeitet. Alles wurde getan, um die die als eigen oder als assimilationsfähig betrachtete Bevölkerung aus dem als untergegangen betrachteten Litauen abzuziehen. „Der Russe“ steht im Raum; er ist nur noch nicht da. Das Staatswesen – wenig mehr als ein geborgtes nationales Leben nur noch auf Zeit. Der strukturierende Einfluss, der von den im Text genannten Stellen im Reich ausging, konnte sich selbstverständlich nicht offen in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten einmischen, so dass alles auf den Eindruck von Freiwilligkeit und Begeisterung abgestellt war, wenn einmal die historische Heimat rief. Es ist doch nicht mehr die Machtdemonstration von 1939; es ist ein Gutteil Angst, ängstliche Erwartung. In der Praxis finden derartige Bewegungen doch weit weniger heroisch statt. Ohne Geldmittel aus dem Reich wäre die völkisch-disziplinierte, vermeintlich selbstverständlich deutsche Gesinnungsverwandtschaft freilich allein kaum so wirksam geworden; und auch die gezeigte Disziplin war mit Sicherheit nicht immer ganz freiwillig. Wessen Wille wirklich maßgebend war, wird gerade in der Verwirrung des Jahres 1940 restlos klar. Denn auch die Herrschaften in Berlin und Moskau waren sich nicht auf Anhieb einig geworden. Mit Folgen wurde gedroht, wenn Hitler käme – oder wenn er nicht käme.

Größere Aufgaben standen im Raum, schon als die Nationalsozialisten sich 1933 für die Auslandsdeutschen und deren Instrumentalisierung interessierten. Deutschland und das Deutschtum als Idee waren größer gedacht, in einer größeren, aber nie öffentlich konkretisierten Rolle als die seinerzeitigen Grenzen – logisch gedacht, kam dazu freilich nur die Herrschaft, in was für einer Form auch immer, über einen größeren Raum, und damit notwendig über vorhandene Bevölkerung, in Betracht. Dies konnte, so weisen es die Texte implizit aus, bis 1939 gelten. Mit den revidierten Territorialvereinbarungen aus dem Hitler-Stalin-Pakt angesichts der absehbaren Niederlage Polens, die Litauen nun entgegen dem ursprünglichen Plan der Sphäre der UdSSR und sozusagen der Sphäre der slawischen Kultur scheinbar auf ewig überließen, galten neue Prioritäten, und der entwickelte Aufwand an Disziplin und Organisation wurde nun umgekehrt für den strategischen Rückzug aus dem fernen Osteuropa, für die Konsolidierung des deutschen Kern-Siedlungsgebietes und die Festigung der als dauerhaft deutsch betrachteten Territorien eingesetzt. Die scheinbare Beliebigkeit dieses politischen Schwenks, der so viele deutschtumsgläubige Menschen tangierte, erschreckt. 1940 war man, zumindest formal, bereits im Krieg mit England und Frankreich.

Umgekehrt aber muss hier der NS-Staat selbst in erster Linie als das Werkzeug (und die sozusagen aus der völkischen Funktion sich ergebende Form) eines größeren Konzepts, des Volksgedankens, dessen Interessenwahrung, begriffen werden(4).

Insbesondere in der Hochphase der deutsch-litauischen Spannungen über das Memelgebiet (1934) standen auch die Litauendeutschen in Kaunas und in der Provinz unter der aufmerksamen Beobachtung des litauischen Staatsschutzes, der mittels Informanten in der Leitung des Kulturverbandes in Kaunas, Vytauto prospektas Nr. 24a bzw. Nr. 41, und in dessen Sektionen in der Provinz über die Organisation der Litauendeutschen durchaus alles wusste was ihn interessierte(5) bis hin zu den detaillierten Abrechnungen der von der Deutschen Gesandtschaft in Kaunas erhaltenen Gelder, die vor allem für die Gehälter der Lehrer an den vom Kulturverband unterhaltenen deutschen Privatschulen oder die Unterbringung von Internat-Schülern verwendet wurden, insbesondere dem Deutschen Gymnasium in Kaunas, ebenfalls am Vytautas-Prospekt gelegen (6).

Der Text von 1940 ist also von ganz anderer Natur als der vorherige von 1939, der ein bedrohliches Anwachsen, Auflaufen der deutschen Selbstorganisation zeigt. Der Bericht von 1939 zeigte das Anschwellen der bedrohlichen Mobilisierungswelle: Hier erreicht die Welle mit dramatisch gewachsenen Mitgliederzahlen der litauendeutschen Vereine ihren Scheitel. Aber sie wechselt die Richtung. Die politischen Großfragen sind anders entschieden, und nun ist alles eine Frage der Zeit. Doch die betroffenen Menschen sind nicht informiert; sie sind äußerst verunsichert. Sie haben im Geiste die Brücken bereits abgebrochen, aber sie sitzen zwischen zwei Welten fest. Diese Deutschen wollen, oder dürfen nicht bleiben; sie sind nicht mehr da um zu bleiben. Aber in Europa ist Krieg. Die geheime Statusabfrage bei den Behörden der litauischen Kreise erfolgt zu einem Zeitpunkt, als diese Volksgruppe buchstäblich in Bewegung kommt. Sie gehört damit thematisch immer noch in den unmittelbaren Zusammenhang der 1938 behördlich veranlassten geheimen Erstellung eines Vermögensverzeichnisses der Litauendeutschen, das durch die bekannten Hitler’schen Revisionserfolge Ende der 1930er Jahre und die damit einher gehende Mobilisierung der deutschen Auslandsminderheiten veranlasst wurde. Hier (1938) ist die deutsche Minderheit noch statisch - s. LCVA F. 378 Ap. 12 B. 226 – in einer Momentaufnahme werden ihre Besitzstände und ihre Einstellung gezeigt. Man wollte damals im Grunde wissen, was auf Litauen zukommen würde, sollten nach den Sudetendeutschen und den Memelländern auch die eher versprengt in Litauen vertretenen Litauendeutschen auf Hitler hören. Nun will und muss man wissen, was es bedeutet, wenn Hitler die Litauendeutschen wegruft. Aber diese erwarten selbst den Ruf, um wenigstens eine Entscheidung ihres Schicksals vorliegen zu haben, das sie nicht mehr selber bestimmen können.

Der Text von 1940 ist also von ganz anderer Natur als der vorherige von 1939, der ein bedrohliches Anwachsen, Auflaufen der deutschen Selbstorganisation zeigt. Der Bericht von 1939 zeigte das Anschwellen der bedrohlichen Mobilisierungswelle: Hier erreicht die Welle mit dramatisch gewachsenen Mitgliederzahlen der litauendeutschen Vereine ihren Scheitel. Aber sie wechselt die Richtung. Die politischen Großfragen sind anders entschieden, und nun ist alles eine Frage der Zeit. Doch die betroffenen Menschen sind nicht informiert; sie sind äußerst verunsichert. Sie haben im Geiste die Brücken bereits abgebrochen, aber sie sitzen zwischen zwei Welten fest. Diese Deutschen wollen, oder dürfen nicht bleiben; sie sind nicht mehr da um zu bleiben. Aber in Europa ist Krieg. Die geheime Statusabfrage bei den Behörden der litauischen Kreise erfolgt zu einem Zeitpunkt, als diese Volksgruppe buchstäblich in Bewegung kommt. Sie gehört damit thematisch immer noch in den unmittelbaren Zusammenhang der 1938 behördlich veranlassten geheimen Erstellung eines Vermögensverzeichnisses der Litauendeutschen, das durch die bekannten Hitler’schen Revisionserfolge Ende der 1930er Jahre und die damit einher gehende Mobilisierung der deutschen Auslandsminderheiten veranlasst wurde. Hier (1938) ist die deutsche Minderheit noch statisch - s. LCVA F. 378 Ap. 12 B. 226 – in einer Momentaufnahme werden ihre Besitzstände und ihre Einstellung gezeigt. Man wollte damals im Grunde wissen, was auf Litauen zukommen würde, sollten nach den Sudetendeutschen und den Memelländern auch die eher versprengt in Litauen vertretenen Litauendeutschen auf Hitler hören. Nun will und muss man wissen, was es bedeutet, wenn Hitler die Litauendeutschen wegruft. Aber diese erwarten selbst den Ruf, um wenigstens eine Entscheidung ihres Schicksals vorliegen zu haben, das sie nicht mehr selber bestimmen können. 

Der zeitliche Kontext der Archivakten sei im Folgenden noch einmal rekapituliert. Mit dem Titelblatt fehlt zwar die exakte Datierung, doch ist der letzte Text nach dem 27.2.1940 entstanden, jedoch vor dem 15.6.1940, der als das Ende des litauischen Regimes gilt. Er gehört damit in die letzten Wochen der Litauischen Republik unter dem Tautininkai-Regime, unter Smetona. Die NS-gesteuerte Selbstorganisierung der deutschen Volksgruppe und deren Vorbereitungen zur Ausreise angesichts einer erwarteten baldigen sowjetischen Machtübernahme sehen wir hier schon in vollem Gange, fast schon überreif, jedoch überwiegt Ungewissheit. Bis zur eigentlichen Übersiedelung vergeht noch beinahe ein Jahr. Deren Methoden, die Versprechungen von Wohlstand in einer neuen Heimat, die Einschüchterung – die Ethnie sage sich von den Unentschiedenen endgültig los, die Registrierung in Listen, die Vermögenserfassung, die Intensivierung und Verstraffung der deutschen Vereinsarbeit freilich schildert der Text sehr anschaulich – sie unterscheiden sich in den einzelnen Kreisen lediglich nach ihrer Intensität, je nachdem wie viele Deutschstämmige, oder evangelische Bevölkerung, dort wohnen. Von den tatsächlichen politischen Entscheidungen über die Lage dieser Deutschen aber erfährt man nichts; und auch die litauischen Behörden selbst erscheinen nicht mehr als die Herren des Verfahrens. Es bestimmen nun Berlin und Moskau, und die schweigen, zumindest was die Aktenlage im litauischen Staatsarchiv und die seinerzeitigen Kenntnisse der litauischen Staatsschützer betrifft, einstweilen. Dennoch wird weiter agitiert und erfasst, wiewohl keiner weiß, wann es losgehen soll. Es geht für die betroffene Bevölkerung sozusagen um die einmalige Chance, deutsch zu bleiben oder (als Familienmitglied) zu werden, oder endgültig im Strudel eines unsicheren Osteuropa zu verschwinden, zurückgelassen zu werden, von den Volksgenossen verachtet zu werden und in der künftigen Ordnung, das spürt man, keinen Platz zu haben, wo man schon zuvor eher geduldet als geliebt war. Eine panische Wahl. So hart waren, das spürt man, die Zeiten; und die impulsiven, instinktiven Entscheidungen, ja der Herdentrieb wurden existentiell. Keiner, der sich deutsch nennt, will zurückgelassen werden, wenn ein ganzes Umfeld sich in Bewegung setzt. Das Versprechen von Privilegien, die günstige Vermögensbewertung, soll den Abschied von der Heimat versüßen. Doch was davon wird das Reich auch halten? Und ist nicht bereits Krieg? Die Angst vor den Umbrüchen in der alten wie der neuen Heimat, sie ist völlig berechtigt.

Was die deutschen Machthaber vorhaben, und wann die Sowjets kommen, ist ungewiss. Wann die neuen Machthaber Litauen übernehmen ist ungewiss. Gutes wird von ihnen, zu recht, nicht erwartet. Über die Zukunft wird spekuliert. Immobilien werden verkauft und stattdessen bewegliche Werte angeschafft.

Seinem Diktus und der in ihm propagierten Vorgehens-Methodik nach gehört der Text (1940) noch völlig in die litauische Smetona-Zeit, in das nationalautoritäre, rechte, „ethnokratische“ Tautininkai-Regime. Der Diktus entspricht demjenigen des seinerzeitigen litauischen Staatsschutzes (Valstybės Saugumo Departamentas), der Mitte 1940 kurzzeitig zu sowjetisieren versucht wurde, dann aber von den einschlägigen Sowjetorganen abgewickelt wurde. Seine Akteure verschwanden in den NKVD-Kellern. Noch immer im Amt sind auch die als Landräte in den Kreisen fungierenden apskričių viršininkai, die zivilen, aber mit umfassenden außergerichtlichen Vollmachten ausgestatteten Statthalter und Vertrauensleute des Regimes. Die weitgehende „Vergeheimnisung“ der behördlichen Korrespondenz war üblich, Kennzeichen des militarisierten Regimes. Die Geheimabfrage von Daten bei den Häuptern der örtlichen Verwaltung durch die politische Polizei war typisch für ein Land, in dem bis November 1938 Kriegsrecht gegolten hatte und in dem mit dem „verstärkten Sicherheitszustand“ (sustiprintos apsaugos padėtis) auch danach eine abgemilderte Form des Ausnahmerechts galt. Man pflegte Informationen einzuholen, nicht etwa mit den Leuten zu reden, denn das hätte ihnen gegenüber dem Staat einen „unangemessenen“ Wert beigegeben und die Autorität untergraben. Geschwunden ist freilich (1940) ein wenig die habituelle Selbstsicherheit der berichtenden Behörde. Die Pose des Beobachters überwiegt, wie gesagt.

Es seien hier als ein breiterer zeitgenössischer Kontext von Zwischenkriegszeit und Hitler’scher Revision für die in dieser Publikation ausgebreiteten Vorgänge litauischer Behörden rekapituliert: der Hitler’sche Anschluss Österreichs am 13.3.1938, der am 10.4.1938 durch eine Volksabstimmung bestätigt wurde; die Sudetenkrise des Jahres 1938 und die Münchner Konferenz vom 29.9.1938, deren Ergebnis die erzwungene Abtretung des überwiegend deutsch besiedelten Sudetengebietes an das Reich war. Hier wurde bereits eine genaue Kenntnis der deutschen Volksgruppe, ihrer wirtschaftlichen Bedeutung und ihrer politischen Orientierung relevant. Am 19.3.1938 hatte überdies Polen von Litauen mittels eines Ultimatums die Anerkennung der Wilna-Grenze und die von Seiten Litauens höchst unerwünschte Aufnahme diplomatischer Beziehungen erzwungen: Ein Fiasko. Eine feste Größe und ein konstituierender Topos im litauischen nationalen Traum, ja eine Ikone des Litauertums selbst, die Erlangung der historischen Hauptstadt, war damit vollends unrealistisch geworden, was zu einem Sturz der Regierung führte (Amtseinführung der Regierung Mironas). Der vom Regime betriebene Kraftkult hatte sich als leer erwiesen, und man sah sich gezwungen, Parteien wieder zuzulassen und die Christdemokraten in die Regierung zu nehmen.

War der Spanische Bürgerkrieg ab 1936 – um hier gar noch etwas weiter auszugreifen - zu einem Stellvertreterkrieg und zu einer taktischen Schule für das Militär der totalitären Regime in Europa mutiert, so hatte die Anerkennung Franco-Spaniens durch die demokratischen Westmächte Großbritannien und Frankreich am 27.2.1939 bereits ein offenes Eingeständnis bedeutet, dass die Ordnungsmächtigkeit des 1920 in Wirkung getretenen Völkerbundes am Ende der vierten Dekade ihre Zeit überlebt hatte. Von Bedeutung bis hinein unsere Zeit wurde, dass Stalin aus dieser Erkenntnis eine wichtige Konsequenz zog. Die Westmächte waren auf dem Rückzug und die Ordnung der künftigen Achsenmächte schien Europa nun prägend zu beherrschen.

Dies war das Ergebnis eines etwa vier Jahre dauernden Erosionsprozesses gewesen, der Anfang 1935 eingesetzt hatte. Der Keim des Niedergangs der Versailler Ordnung und ihres legislativen und exekutiven Ausdruckes, des Völkerbundes, fiel bereits in den Januar des Jahres 1935, als die plangemäße Volksabstimmung über den Status des gemäß Versailler Vertrag als Kriegsreparation französisch verwalteten und wirtschaftlich genutzten Saargebiets anstand und mit 91% Stimmen für eine Rückgliederung zu einem überwältigenden Sieg für die Parteigänger des Deutschtums wurde. Jetzt hatten die deutschen Revisionsbestrebungen, oder mit anderen Worten: der Erweis der Ungerechtigkeit des Versailler Vertrages, nach den rituellen, demokratischen Spielregeln der Völkerbund-Ordnung ihre Bestätigung gefunden; sie waren nun unabweisbar mit Legitimität versehen und waren präsentabel. Damit war der Ausschluss deutscher Anliegen im weiteren Sinne von der politischen Agenda des Völkerbundes nicht mehr zu rechtfertigen, wollte man sein eigenes demonstrativ zivilisiertes Wertefundament nicht beschädigen. Damit war, wurde sie mit friedlichen Mitteln erreicht, auch vom moralischen Standpunkt her gegen die Berechtigung deutscher Revision schon kaum mehr etwas zu sagen – und diese prinzipielle Niederlage bedeutete in Konsequenz das Ende der Ordnung selbst, da sie, was ja in Art. 231 Versailler Vertrag ausgedrückt wurde, auf dem Prinzip eines moralischen Gefälles zwischen Siegern und Besiegten aufgebaut gewesen war. Nun kam man an den Rechten der Besiegten nicht vorbei; und überdies hatte die Konferenz von Lausanne im Juli 1932 für Deutschland das Ende der Reparationszahlungen absehbar werden lassen. Erst so wurde es möglich, an volle Souveränität und Rüstung überhaupt zu denken. Unübersehbar (und doch längst vor entschieden) wurde das Ende des Versailler Systems mit dem Hitler-Stalin-Pakt vom 23.8.1939 und seinem damals noch geheimen Zusatzprotokoll, das die Abgrenzung der gegenseitigen Interessensphären und damit die Aufteilung Osteuropas, de facto die jeweilige Expansion des Reiches bzw. der UdSSR in den ehemaligen „Cordon sanitaire“ von Versailles bezweckte. Doch letztlich war dies eher ein äußeres, einschneidendes Symptom, das ein langes Siechtum dieser Ordnung zu einem sichtbaren Ende brachte.  Diese Entscheidung Stalins zu einem separaten Arrangement darf durchaus als eine Lehre aus der Zurückhaltung der Westmächte gegenüber den Ergebnissen der spanischen Auseinandersetzung gewertet werden. Die Westmächte schienen mit sich selbst beschäftigt, weich, und schwach. Dass die englischen und französischen Garantierklärungen für Polen da von deutscher Seite nicht besonders ernst genommen wurden, kann nicht ganz verwundern. Nach dem Ende der Kollektivordnung wurde, wenn man so will, auch mit deren territorialem Restbestand nüchtern aufgeräumt; und damit, mit einer großen Fehleinschätzung, begann in Europa der Weltkrieg.

Hatte doch genau dieser Staatengürtel des „Cordon sanitaire“, in dem Litauen insbesondere ab 1934 (als das Reich mit Polen einen Nichtangriffspakt schloss) insbesondere für die französische Politik eine gehobene und aktive Bedeutung erlangt hatte, bezweckt, die deutschen Revisionsbestrebungen an des Reiches Ostgrenze beschäftigt und von der Grenze eines Frankreich fernzuhalten. Frankreich war dem drückenden Wurf der von Clemenceau inszenierten Ordnung – sie lief auf die dauerhafte Ausschaltung gleich dreier Akteure aus der klassischen europäischen Pentarchie hinaus -  weder wirtschaftlich noch militärisch gewachsen war, und suchte dies mit diplomatischer Intrige und der Einbindung der nationalen Interessen der neuen Staaten in einer Frontstellung gegen das 1919 gedemütigte und nach Fläche und Bevölkerung amputierte Reich zu kompensieren suchte. Überdies wollte man die kommunistische Sowjetunion von Mitteleuropa geographisch separieren.

Erst als das Hitler’sche Deutsche Reich am 14.10.1933 aus dem Völkerbund, sozusagen nach japanischem Muster, ausgetreten war und sich der geradezu feindseligen Kollektivordnung und deren Verrechtlichung durch nunmehr eine Politik bilateraler Einzelverträge zu entziehen suchte, wurde die UdSSR – vor allem als militärische Macht, die dem Reich Paroli bieten konnte - salonfähig und von Frankreich zwecks eines Eintritts in den Völkerbund beinahe desperat umworben, der diese Kollektivordnung noch einmal revitalisieren und das Reich bändigen sollte. Ein am 27.6.1934 von dem französischen Außenminister Jean-Louis Barthou formuliertes Projekt eines „Ostpaktes“, oder „Ost-Locarno“, das unter anderem eine Kollektivgarantie für die Grenzen in Osteuropa vorsah, scheiterte an den bekannten Revisionswünschen des Reiches, das sich überdies auch gar nicht in die Rolle einer aggressiven Macht drängen lassen wollte (und mit bilateralen Vereinbarungen mehr für sich ausrichtete als sich einer geschlossenen Front seiner Gegner auszusetzen), gegen die ein solcher Pakt schließlich gerichtet sein müsse - und allzu offensichtlich gerichtet war. Aber es scheiterte eben auch am Widerstand Polens, das eine regionale Vormacht über den „Cordon sanitaire“ ausüben wollte und seine Bündnis-Fühler selbst bis nach Finnland und Schweden streckte. Vor allem aber war den Polen klar, dass ein für den Eintritt des Bündnisfalles vorgesehener Vormarsch sowjetischer Truppen auf unter anderem polnisches Gebiet mehr als problematisch war. Hatten doch Pilsudski und Weygand 1920 nicht umsonst gegen Tuchačevskij an der Weichsel gefochten. Fehlten also dem Barthou-Projekt (1934) als dem letzten Versuch kollektiver Befestigung und Verrechtlichung der aus Versailles hervorgegangenen Grenzen auch im Osten somit bereits die realen Voraussetzungen, da gerade die einzurahmenden Staaten ihre Interessen verletzt sahen, so wurde es nach dem Tode seines Initiators (7) allenfalls noch mit rein rituellem Einsatz verfolgt. Jedoch trat die UdSSR am 18.9.1934 dem Völkerbund bei. Ihre reale Rolle zeigte sich alsbald in militärischen Beistandspakten, die am 2.5. bzw. am 16.5.1935 mit Frankreich und der Tschechoslowakei geschlossen wurden. Der Gusto, mit dem Hitler etwa drei Jahre später die Zerschlagung der Tschechoslowakei betrieb, mag auch darin begründet liegen, dass ein offensichtlich gegnerisches Bündnis, von Frankreich geleitet, an die Grenzen des bereits reduzierten Reiches vorgerückt war.

Die Periode nach diesem deutschen Austritt aus dem Völkerbund (1933) über einer Auseinandersetzung über Rüstungs-Beschränkungen war von Litauen energisch genutzt worden, um in dem 1923 annektierten Memelgebiet, das gemäß der 1924 angenommenen Memelkonvention unter litauischer Souveränität und unter der Aufsicht der vier Signatarstaaten dieses Abkommens (Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan) eine recht prekäre und vom Zentralstaat angefeindete Territorialautonomie genoss, eine im Staatsverständnis des litauischen Tautininkai-Regimes (als „Völkische“ oder „Nationalisten“ zu übersetzen) selbst bereits begründete radikale Lituanisierungspolitik zu forcieren.

Man nutzte hierzu eine in der öffentlichen Meinung Europas vorherrschende antinazistische Stimmung und Revisionsfurcht und ging gegen im Memelgebiet tatsächlich bestehende NS-Formationen vor. Dazu erachtete man den Zeitpunkt durchaus günstig: Wollte das Reich intervenieren, war es völlig auf die Gunst der Signatarmächte angewiesen und hatte sich aus der Memelkonvention (Art. 17) selbst hinauskatapultiert.  Freilich suchte man, was sich als folgenschwerer Fehler erwies, mit einem scharfen Vorgehen gegen die Institutionen und Akteure der Memeler Autonomie das politische Deutschtum im Autonomiegebiet als solches auszuschalten - und stärkte damit letztlich den Zusammenhalt gerade dieser Volksgruppe. Organisierte Kontakte zwischen dem Leben der deutschen Volksgruppe in Altlitauen, die historisch ganz andere Wurzeln hatte und die auch in sozialer Hinsicht kaum als eine „vollständige“ ethnische Gemeinschaft mit allen Schichten und Berufsgruppen bezeichnet werden konnte, und dem politisch äußerst aufgewühlten Leben der Memeldeutschen im Autonomiegebiet bestanden freilich allenfalls ganz, ganz sporadisch und nicht in organisierter, oder gar politischer Form. Schließlich waren die Memelländer erst im Gefolge des Versailler Vertrages und gegen ihren manifesten Willen unter litauische Herrschaft gekommen, als eine 500 Jahre alte Grenze geschleift wurde. Natürlich war auch in dieser Hinsicht, freilich praktisch ohne Anlass, die litauische Staatsmacht sehr aufmerksam. (8) Für dieses Ansinnen einer litauischen Durchsetzung im Memelgebiet, die das (durch das Erstarken des Nazismus im Reich und durch Gerüchte von Revision) sehr beschädigte Renommee des Zentralstaates dringend erforderte,  hatte die UdSSR mit einer am 26.1.1934 – dem Datum des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes, der Polen vorübergehend aus der Versailles-Front gegen das Reich herausgelöst hatte - ausgesprochenen geheimen Bestandsgarantie für Litauen den diplomatischen Rückhalt geliefert, während das Reich nach dem Austritt aus dem Völkerbund  in den Angelegenheiten des umstrittenen Memelgebiets keine rechtliche Handhabe mehr hatte. (9) Die UdSSR war seit 1920 eine verlässliche Stütze der litauischen Außenpolitik gewesen. Von Bedeutung war dabei auch, dass die UdSSR Litauen in dessen anderem Territorialkonflikt, den Anspruch auf die historische Hauptstadt Wilna / Vilnius gegenüber Polen, stets unterstützt hatte, während gerade die Existenz zweier latent schwelender Territorialkonflikte Litauen für seine kleinen baltischen Nachbarn als nicht bündnisfähig hatte erscheinen lassen und auch die Westmächte, bei allem diplomatischen und gelegentlich handelspolitischem Engagement, sich niemals zu einer konkreten militärischen Beistandsgarantie für Litauen hatten durchringen können.

Diese Querelen um das für den litauischen Landesausbau sehr bedeutsame Memelgebiet prägten das deutsch-litauische Verhältnis der 1930er Jahre vollständig und endeten erst mit der durch Ribbentrop erzwungenen Restitution des Gebietes am 23.3.1939, wodurch Litauen mit Hafen und Industrie vor allem einen für den inneren Landesausbau fest eingeplanten und bedeutenden Faktor einbüßte. (10) Die Deutschen im eigentlichen Altlitauen spielten in den 1930er Jahren für das Verhältnis der beiden Staaten eine absolute Randrolle und sahen sich lediglich einer unter dem damaligen Regime üblichen schleichenden, selbstverständlichen administrativen Repressionspolitik gegen Minderheiten ausgesetzt, deren eigene kulturelle Merkmale allmählich geschleift werden sollten. Einmal verlorene Sonderrechte kehrten in Tautininkai-Litauen nicht wieder. Praktisch zeitgleich mit dem Verlust des Memelgebiets, der (23.3.1939) als harter Schlag kam, hatte übrigens am 15.3.1939 die Slowakei - unter Dr. Tiso - ihre Unabhängigkeit von Prag erklärt; sie stellte sich am 23.3. unter deutschen militärischen und außenpolitischen Schutz. Der tschechische Staatspräsident Hacha und sein Außenminister Chvalkovsky müssen einen Vertrag über die Schaffung des Reichsprotektorates Böhmen und Mähren unterzeichnen, was Hitler intern martialisch als die „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ versteht.

Das Memelgebiet hatte in dem genannten Kontext stets als eine Art Seismograph funktioniert, dessen Ausschläge, politische Aktionen den Zustand der Völkerbunds-Kollektivordnung untrüglich angezeigt hatten. Das litauische Engagement für diese Ordnung war bedeutend gewesen. (11) Diese eminente Bedeutung Memels für Litauen, der Ausbau des Hafens etc. und die für den Landesausbau fest eingeplante Rolle hatte nicht zuletzt den Wunsch motiviert, die dortige Bevölkerung vollständig, und gegen deren mehrheitlichen Willen, zu beherrschen. Mussten also die stets rituell aufrecht erhaltenen Ansprüche des Tautininkai-Regimes in Kaunas auf die historische Hauptstadt Vilnius mit der erzwungenen Aufnahme litauisch-polnischer diplomatischer Beziehungen zunächst und vermeintlich auf absehbare Zeit aufgegeben werden, so stürzte auch über die nächste Staatskrise eine Regierung. Mit dem Verlust des Memelgebietes und dem erzwungenen Abschied von Ansprüchen auf Wilna (dies wendete sich 1940 überraschend) war Litauen auf einen Staatenrumpf von ganz überwiegend agrarischer Struktur, wenn man so will: auf das typische agrarische Hinterland einer größeren Macht, reduziert.

Mit dem Verlust Memels für Litauen war auch die Regierung Mironas gestürzt und derjenigen des Generals Černius gewichen. Hatte die Staatskrise im Zusammenhang mit dem polnischen Ultimatum eine Öffnung der Staatspartei hin zur Gesellschaft, eine Mehrparteienregierung und ein Mehrparteienparlament erzwungen, so dominierte in der Endphase der Republik wieder das Militär. Dass es als politischer Ordnungsfaktor wenigstens funktionierte, durfte man wohl erwarten, hatte doch das Militär um 1934 und 1935 über 25% des Staatshaushaltes beansprucht, als Litauen durch den Handelsboykott  über Memel finanziell geschwächt war und sich im Inneren mit bäuerlichen Steuerstreiks und Armutsunruhen und, 1936, mit Unruhen unter Kaunasser Industriearbeitern konfrontiert sah, wo die Regierung Unternehmern die vorteilhaften Geschäftsbedingungen einer Entwicklungsdiktatur gewährte. Über weite Strecken, so möchte man sagen, hatten Militär und Kriegsrecht den Staat in Stabilität gehalten, freilich um den Preis eines gewissen Moralverlustes unter den Eliten, einer gewissen Hektik und Frivolität in der Suche nach außenpolitischen Freunden unter Maßgabe der durchaus prekären eigenen Interessen und schwelenden Konflikte.

Gerade die beiden äußeren Dispute über Memel und Wilna, die im Grunde in ideeller Hinsicht die sich formierende litauische Staatsnation entscheidend definierten, mussten Litauen freilich zu einem Staat machen, der geradezu strukturell wenige Freunde haben konnte. Denn die de facto ungelösten, in Spannung gehaltenen Konflikte Litauens (die ihrerseits auf die Bestimmungen der Pariser Vorortverträge zurückgingen) machten das Land zu einem potentiell gefährlichen und praktisch wenig hilfreichen Freund – es sei denn, der werbende Kandidat war selbst ein gefährlicher Nachbar, ein östlicher Großstaat, dessen schiere Masse solche Konflikte lässig aushalten konnte.  Häufte man durch Käufe bei verbündeten Mächten in der Mitte der 1930er Jahre auch neuzeitliche Waffen an und leistete man sich sogar eine bescheidene Luftfahrtindustrie, so muss man doch eher von heroischen Willensbekundungen sprechen, denn von einer echten Einsatzarmee nach Anzahl und Qualität ihrer Ausrüstung. Man blieb in jeder denkbaren Bedrohungslage hilflos. Eher schon war das Militär eine Art politischer Klammer.

Mit dem Verlust des Memelgebiets muss man nun von einer rein passiven Phase sprechen, in der die litauische Politik kaum mehr tun konnte als die Abwickelung der europäischen alten Kollektivordnung und den eingetretenen Schaden für das eigene Land zu beobachten, Krisen zu „managen“ und vielleicht die nötigsten Schritte zur Schadenseindämmung einzuleiten. Es gehörten dazu Anstrengungen, ein Ausbluten des Landes durch den  Bevölkerungsentzug der (ganz woanders) geplanten Umsiedelungen zu verhindern und dem Absehbaren mit ideologischen Maßnahmen entgegen zu wirken. Befürchtet wird, dass die offensichtliche und zeittypische „Sammlung“ der ethnisch deutschen Bevölkerung auch eine Abwanderung der Litauer evangelischen Glaubens, eine Art Zersetzungsstimmng nach sich zieht, oder eben derjenigen, die sich über ihre Volkszugehörigkeit nicht im Klaren sind. Darauf weisen beide hier angeführten Texte hin; ebenso auf die beständige Illusion über die so eigentümlich farblos auftretende Nationalität der evangelischen Litauer disponieren, sie manipulieren zu können. Zu oft wird hier mit einem Kontrast gegen das Deutschtum gearbeitet, und zu wenig Positives gesetzt.

Denn häufig genug gilt evangelisch als deutsch, waren doch die Kirchen von deutschen Gemeinden gegründet und gebaut, beanspruchten hier die Deutschen das Sagen und das Vermögen, und wir erleben in diesem Text eben auch das Echo einer innerkirchlichen Auseinandersetzung um die vom Staat massiv beförderte Lituanisierung der Gemeinden, der die Kristallisationspunkte fremder Identität systematisch mittels Spaltungspolitik schleifen wollte und Unfrieden in diese Gemeinden hinein trug, wie sie 1930-1931 schon einmal aufgebrochen war. Die offensichtlichen Kristallisationskerne der deutschen Sammlung, die plötzlich wie Pilze aus dem Boden wachsenden Sektionen des Kulturverbandes, und die von diesen unterhaltenen Privatschulen noch energisch einzudämmen, wie man es früher seitens des litauischen Bildungs- und des Innenministeriums gerne mit gezielten administrativen Erschwernissen souverän getan hatte, fehlte nun die Kraft: Man war im Grunde nicht mehr Herr im eigenen Hause und musste den „fremden“ Entwicklungen im Lande zusehen. Der Einsatz litauischer Bestrebungen in einer noch immer deutsch geprägten evangelisch-lutherischen Kirche zur Spaltung und Eindämmung des Deutschtums war dabei Standardrepertoire des Regimes während des gesamten Jahrzehnts gewesen. Dies erlaubt auch einen bezeichnenden Blick auf die litauische Nationalitätenpolitik, die bei geringer Masse den Begriff des Litauers aus politischen Erwägungen heraus sehr weit und inklusiv fasste, gegen das Individuum und seiner Entscheidungsfreiheit aber sehr restriktiv verfahren musste und sich gegenüber jedem fremden kulturellen Einfluss notgedrungen sehr exklusiv verhielt. Kulturell musste dieser Staat, um sich abzusetzen und sich zu behaupten, exklusiv sein; in der Vereinnahmung von Bevölkerungen aber war er notwendig inklusiv, zumal über die „objektive“ Identität der örtlichen Bevölkerung Ansprüche auf disputiertes Territorium (Wilna, Memel) erhoben wurden. Das ethnische Verständnis war mithin für das Verständnis vom Staat selbst ganz zentral und wurde mit entsprechender Bedeutung und Aufmerksamkeit belegt.

 Die UdSSR wurde denn, wie um ein entleertes Gefäß zu schließen, auch der letzte Staat, der 1939 unter dem Eindruck der Hitler’schen Erfolge und der Ohnmacht der Westmächte dieser Kollektivordnung den Rücken kehrte und einen separaten „Deal“ mit Hitler schloss. Das Geheimprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt hatte in seiner ursprünglichen Form Litauen noch in der deutschen Interessensphäre verortet (Lettland und Estland in der sowjetischen), doch wurde diese Festlegung am 28.9.1939 bereits im ebenfalls von Ribbentrop und Molotov, noch während der polnische Krieg andauerte, in Moskau geschlossenen Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag revidiert und Litauen im Gegenzug für einen größeren deutschen Anteil am besiegten und besetzten Polen (der Bug als Grenze zwischen den Mächten), der später unter das so genannte „Generalgouvernement“ fiel und wo – fern der Heimat mit ihren Anstandsregeln! - im sozusagen Ostraum verdünnter Rechtlichkeit und Menschlichkeit dann die bekannten entsetzlichen Exzesse verübt wurden, der sowjetischen Interessensphäre zugeschlagen. Dieser Kontext eines absehbar sowjetischen Litauen bedingte die wichtige Thematik der in unserem Text genannten Umsiedelungen deutscher bzw. evangelischer Bevölkerung aus Litauen; er erklärt die eingesetzten Mittel und Argumente: die Drohkulisse einer atheistischen, brutalen Sowjetherrschaft, der Verschleppung, oder der Rache für Juden in Deutschland angetanes Unrecht, oder die Drohung der Nichtachtung durch, der ewigen Verstoßung aus der politisch-ethnischen, als monolithisch behaupteten Volksgemeinschaft der Deutschen, dem Verbleiben, dem Identitätsverlust, ja der letztgültigen Assimilation und Auflösung der Identität - wenn man sich jetzt nicht entscheiden wollte. 

Man sitzt, nachdem man sich 1939 mächtig an seiner plötzlichen Präsenz berauscht hat, 1940 auf gepackten Koffern, und man weiß nicht was kommt. Gerüchte kursieren, und auch die litauische Staatsmacht sucht gegenzusteuern, Bevölkerung zu halten, auch ein wenig Defätismus unter den Umsiedelungswilligen zu schüren. Die phantastischen Versprechen von mehr künftigem Wohlstand, und das dürfte auch nicht Allen klar gewesen sein, konnten nur Bestand haben, wenn man seinerseits Geraubtes, z.B. in Polen, an die künftigen Umsiedler umverteilte. Auch diese Umsiedler hatten nichts zu entscheiden; auch die Entscheidung, ob man dazugehören wollte, war kaum eine freie angesichts der Alternativen. Man bezweckte von höchster politischer Seite durch diese Umsiedelung sozusagen eine ethnische Flurbereinigung der osteuropäischen Landschaft in Erwartung und zur Erleichterung politischer Interessenklärung, im Nebeneffekt eine Germanisierung der dem polnischen Staat abgenommenen und dem Reich einverleibten „Eingegliederten Gebiete“. Diese maßlose Anmaßung des Totalitarismus, diese Hybris der ethnischen Flurbereinigung haben Andere nach dem Kriege dann erfolgreicher und noch gründlicher mit umgekehrten Vorzeichen durchgeführ 

Am 10.10.1939 erwirkt die UdSSR einen Beistandspakt mit dem ihr in der zwischen Ribbentrop und Molotov geschlossenen Vereinbarung insgeheim als Interessengebiet zugewiesenen Litauen, der ihr Stützpunkte und die Stationierung sowjetischer Truppen auf litauischem Gebiet einräumt. Damit befindet sich die deutsche Volksgruppe in einer existentiellen Entscheidungssituation, und dies ist ihr bewusst. Als Trostpflaster darf die letzte Tautininkai-Regierung Černius sich noch über das Wilna-Gebiet freuen und die noch von roten Truppen geplünderte, nun zur litauischen Hauptstadt erhobene Stadt, die ihr die UdSSR, inmitten des großen Betruges im Detail noch immer treu, aus der polnischen Beute überlässt, während andere ehemals polnische Gebiete der Ukrainischen bzw. der Belorussischen SSR zugeschlagen werden. Aber die Tage der Ersten Republik sind gezählt – „Vilnius musų, o mes – rusų.“, wie es bald heißt (Vilnius gehört uns, aber wir – den Russen). Schon bald ist die Rede von angeblichen Übergriffen der Urbevölkerung auf die infolge des Beistandspaktes in Litauen befindlichen Sowjettruppen. Moskau erzwingt im Juni 1940 eine Umbildung hin zu einer gewogenen Regierung unter dem Sozialisten Justas Paleckis, und einen Monat später, am 15.7., wird Litauen, nach dem Beispiel der beiden übrigen baltischen Republiken, der UdSSR angeschlossen.

Die in höchster Perfektion bis hin zur individuellen Nummerierung von Kindern organisierte Umsiedelung von ca. 50.000 Volksdeutschen aus Litauen in das Reichsgebiet findet schließlich später als in den beiden anderen baltischen Republiken statt, unter sowjetischer Ägide, und nur wenige Monate vor dem deutschen Angriff auf die UdSSR. Keiner hat etwas zu sagen, aber ein Jeder zählt.

Auch die beiden folgenden Texte wurden dankenswerter Weise von Frau Nora Drulienė übersetzt.

Klaus Fuchs,

Remchingen, im November 2009


Der aus dem Jahre 1940 stammende Text:


(1. Seite fehlt)

2. Seite

......Litauer evangelischen Glaubens .....Die Agenten besuchen jedes potentielle Mitglied persönlich. In Gesprächen bemüht man sich, sie durch Überzeugungen zur Mitgliedschaft zu überreden. Zuallererst versucht man mit verschiedenen Versprechungen (Verleihung von Beihilfen, Krediten), die Menschen in Güte dazu zu bewegen. Die Agenten versichern ihnen, dass sie deutscher Abstammung seien, auch wenn sie die deutsche Sprache nicht könnten oder sie nicht verwenden würden, und dass sie sich dessen bewusst sein und die Mitgliedschaft nicht meiden sollten. Wenn es in Güte nicht gelingt, werden verschiedene Drohungen eingesetzt. Es wird betont, dass Menschen, falls sie dem Kulturverband nicht beiträten, Litauen würden nicht verlassen und sich die Betreuung durch den Kulturverband nicht zunutze machen können. Außerdem würden sie, wenn sie in Litauen blieben, für Verräter gehalten und Hitlers Schutz für immer entbehren müssen; sie würden so sehr eingeschränkt sein, dass sie ihre Glaubensriten nicht vollziehen könnten, die Kirchen würden geschlossen und sie würden gezwungen sein, zum katholischen Glauben zu konvertieren, in Litauen würden sie Armut leiden müssen und von Hitler sowie dem gesamten deutschen Volk als Verräter verdammt sein.

Zur Schaffung günstiger Voraussetzungen für die Anwerbung werden durch den Verband bewusst verschiedene Gerüchte verbreitet, z.B. dass Deutschland den Krieg gewinnen würde, weil es militärisch stark sei und deswegen würden alle Deutschen (selbstverständlich diejenigen, die dem Kulturverband angehören) ein gutes Leben und verschiedene Privilegien genießen können. Außerdem würde man allen, die Mitglieder der Organisation seien, beim Verlassen Litauens ihr da gelassenes Vermögen zu phantastischen Preisen entschädigen, allerdings dürften das Land nur Mitglieder des Kulturverbandes verlassen. (Schreiben des Amtsvorstehers des Kreises Marijampolė Nr. 19, geheim)

Im Kreis Kėdainiai wirbt man neue Mitglieder für deutsche Organisationen, indem man sie wirtschaftlich unterstützt: Arbeitern und Handwerkern beschafft man Arbeit bei den wohlhabenden Mitgliedern der Organisation, ihre Kinder werden zur Schule bzw. zum Studium geschickt und ihnen wird für sehr geringes Geld oder auch kostenlos voller Unterhalt gewährt. Später werden die Arbeiter dazu bewogen, der Organisation beizutreten, andernfalls, behauptet man, könnten weder sie noch ihre Kinder weiterhin betreut werden. (Schreiben des Amtsvorstehers des Kreises Kėdainiai Nr. 24, geheim)

In der Stadt Skuodas und in ihrem Umkreis wird jedem Deutschen und jedem Menschen deutscher Orientierung der Beitritt zum Kulturverband zugeredet, indem man es ihnen deutlich zu machen bemüht, dass jeder Mensch deutschen Geistes dem Kulturverband angehören müsse, andernfalls würde sich Deutschland von solchen Volksgenossen lossagen und ihnen seinen Schutz entziehen (Schreiben des Amtsvorstehers des Kreises Kretinga, Nr. 10, geheim).

Im Kreis Raseiniai werden die Mitglieder auf unterschiedliche Weise geworben: durch bereits bestehende Mitglieder entsprechender Abteilungen des Kulturverbandes; durch Schüler von privaten Grundschulen; indem den Mitgliedern verschiedene  Privilegien und Kredite versprochen werden; durch Einschüchterung, indem allen Menschen deutscher Volkszugehörigkeit, die die Mitgliedschaft verweigern, mit Rache gedroht wird. Man behauptet, dass über Litauen die UdSSR verfüge, folglich sollen die Deutschen von

Deutschland in Schutz genommen werden. Wo immer man einen „Evangeliker“ vorfindet, wird er von besonders aktiven deutschen Agenten aufgesucht, um ihn zur Mitgliedschaft zu überreden. Eine solche Aktivität deutscher Agenten war besonders nach dem Anschluss des Landes Klaipėda (Memelland) an Deutschland bemerkbar. Den Litauern evangelischen Glaubens, die den Beitritt  zum Kulturverband verweigerten, wurde gedroht,dass es ihnen schlecht gehen würde, wenn Hitler Macht über Litauen ergreifen werde. Evangelische Pfarrer deutscher Nationalität werben während ihrer Weihnachtsbesuche ebenfalls neue Mitglieder für den Kulturverband. Sie behaupten, dass ein Evangeliker zugleich auch Deutscher sei, weil evangelischer Glaube deutscher Glaube sei und Ähnliches. (Schreiben des Amtsvorstehers des Kreises Raseiniai, Nr. 14, geheim).

 Im Kreis Seinai werden neue Mitglieder meistens mit Hilfe der Kirche und während der Streifzüge einzelner Mitglieder durch die Dörfer geworben. Es wird gesagt, dass alle „Evangeliker“ und Lutheraner, wo immer sie wohnen und welche Sprache sie auch sprechen würden, deutscher Abstammung seien und nur im Laufe der Zeit ihre nationale Identität eingebüßt hätten. Bei der Werbung werden auch Drohungen und Einschüchterungen eingesetzt, indem behauptet wird, dass alle hier gebliebenen Evangeliker unter Drück geraten, ihre Kirchen, Schulen, Organisationen geschlossen würden und Ähnliches. (Schreiben des Amtsvorstehers des Kreises Seinai, Nr. 21, geheim).

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Im Kreis Šakiai ist öffentliche Aktivität beim Anwerben neuer Mitglieder nicht zu verzeichnen. Bevollmächtigte der Zentralverwaltung suchen jeden Einzelnen auf, der für einen Deutschen gehalten wird, führen Überzeugungsarbeit durch, legen ihm einen Antrag auf den Beitritt  zum Kulturverband sowie ein Formular zur Bestandsaufnahme und Bewertung des Vermögens vor, erledigen alle Formalitäten und reisen wieder ab. Man versucht auf sie sowohl moralischen als auch materiellen Druck auszuüben. Moralisch: durch Überzeugungsarbeit, indem behauptet wird, dass diejenigen, die jetzt das Deutschtum verweigerten, vernichtet würden, weil Litauen sowieso an Deutschland fallen würde und Deutschland dann solchen Menschen nichts Gutes gewähren werde, außerdem würden sie in Litauen doch so und so für Bürger zweiten Ranges gehalten. Materiell: Auf Anordnung der Zentralverwaltung des Kulturverbandes hin wurde deutsches Vermögen erfasst und sehr hoch bewertet. Der Wert einer Bauernwirtschaft von 7-8 ha mit armseligen Bauten  wurde auf 30-40 Tausend Litas angesetzt und es wurde beteuert, dass für eine ähnliche Summe die Menschen bedeutend größere, gut ausgestattete Bauernwirtschaften bekommen würden. Den Arbeitern solle guter Verdienst und Unterhalt gewährleistet werden. (Schreiben des Amtsvorstehers des Kreises Šakiai, Nr. 29, geheim).

Im Kreis Vilkaviškis werden alle „Evangeliker“ auf unterschiedliche Weise für deutsche Organisationen geworben: durch Bekannte und Nachbarn, die diesen Organisationen bereits angehören, durch heimliche Agenten, Veranstaltung heimlicher Zusammenkünfte und durch die im Kreis bereits funktionierenden Vereine. Die Werbung erfolgt in Form von Versprechungen, dass Mitglieder deutscher Organisationen, insbesondere des Kulturverbandes finanziell unterstützt, mit Kleidung versorgt, in Handwerken ausgebildet werden, dass deutsche Schulen für sie gegründet werden und dass nach der Besetzung der Suvalkija durch Deutschland (dieses Gerücht wurde nach der Besetzung von Klaipėda verbreitet) (12) für sie günstigere Lebensbedingungen geschaffen werden. Den Unwilligen wird damit gedroht, dass nach der Besetzung Litauens sie vertrieben werden und ihr Vermögen beschlagnahmt wird.


III. Wie beeinflusst die deutsche Tätigkeit Litauer evangelischen Glaubens ?

Der Einfluss der deutschen Tätigkeit auf Litauer evangelischen Glaubens richtet sich vor allem auf die Bewohner von Städten und Städtchen. Dort werden sie oft von verschiedenen Agenten aufgesucht, pflegen intensiveren Umgang untereinander, sind besser organisiert. In Dörfern, wo Litauer evangelischen Glaubens verstreut leben, war die deutsche Tätigkeit noch nicht erfolgreich. Wirtschaftlich schwächere Litauer evangelischen Glaubens, die sich schon früher in die Mitgliederliste des Kulturverbandes haben eintragen lassen, bestehen darauf, von dieser Liste gestrichen zu werden, nachdem sie erfahren haben, dass man Litauen eventuell wird verlassen müssen. Zur Zeit fallen in den Dörfern dem Kulturverband nur Leichtgläubige und Menschen, die sich in einer schweren finanziellen Lage befinden, zum Opfer. (Schreiben des Amtsvorstehers des Kreises Marijampolė, Nr. 19, geheim).

Im Kreis Kėdainiai ist der deutsche Einfluss nur dort groß, wo in der Familie beide Eheleute Deutsche sind, auf gemischte Ehen üben die Deutchen keinen besonderen Einfluss aus.

Im Kreis Raseiniai halten sich alle Ortseinwohner evangelischen Glaubens für Deutsche. Sogar diejenigen, die früher litauischen Organisationen angehört haben, sind jetzt Deutsche geworden, auch wenn viele von ihnen kaum Deutsch können. Die aktiveren Deutschen haben angefangen, die örtlichen Litauer evangelischen Glaubens dazu zu agitieren, deutschen Organisationen beizutreten und im Zusammenhang damit die in ihren Papieren angegebene litauische Volkszugehörigkeit durch die deutsche ersetzen zu lassen. (Schreiben des Amtsvorstehers des Kreises Raseiniai, Nr. 14).

Im Kreis Seinai ist der deutsche Einfluss auf Litauer evangelischen Glaubens groß, besonders unter der jungen Generation, allerdings haben viele Litauer evangelischen Glaubens große Angst vor der Repatriierung. Dieser Einfluss ist besonders in den Amtsbezirken Punskas und Lazdijai bemerkbar. Im Amtsbezirk Punskas haben manche Menschen den Vermerk über die Volkszugehörigkeit in ihren Papieren von „litauisch“ zu „deutsch“ wechseln lassen. (Schreiben des Amtsvorstehers des Kreises Seinai, Nr. 21, geheim).

Während der Agitation wird im Kreis Šakiai jeder einzelne „Evangeliker“ für einen Deutschen gehalten und in die Liste eingetragen. Bewusstere Litauer evangelischen Glaubens lassen sich nicht in die Liste eintragen und leiten eine Aktion dagegen ein. Die deutsche Aktivität ist in Šakiai und in Kudirkos Naumiestis konzentriert.

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Im Kreis Tauragė schenken die echteren Litauer evangelischen Glaubens der Agitation keine Aufmerksamkeit und bleiben passiv. Dort aber, wo mindestens ein Mitglied der Familie eingedeutscht ist, sympathisiert man mit der deutschen Bewegung um so mehr, als diejenigen, die die Vermögensbestandsaufnahme vornehmen, das Vermögen so bewerten, wie es gewünscht wird.

Im Kreis Vilkaviškis übt die deutsche Tätigkeit keinen Einfluss auf Litauer evangelischen Glaubens aus, aber sie beeinflusst stark die unbewussten und passiven Litauer evangelischen Glaubens und besonders dort, wo das Element mit deutscher Orientierung etwas stärker vertreten ist, demzufolge treten die meisten „Evangeliker“ dort deutschen Organisationen bei.

IV. Wo und auf welche Weise tritt derzeit die Aktivität der deutschen Minderheit zutage? Welche Vorkehrungen werden hinsichtlich der angeblichen deutschen Repatriierung getroffen?

 

Die deutsche Aktivität tritt derzeit meistens in den Städten, Städtchen und Dörfern  zutage, wo mehr „Evangeliker“ angesiedelt sind, z. B. in den Städten Marijampolė und Kalvarija, Amtsbezirken Liudvinavas, Marijampolė, Igliškėliai, Sasnava und zum Teil Šilavotas, wo viele Litauer evangelischen Glaubens leben; andernorts ist sie kaum bemerkbar. Was die angebliche Repatriierung anbetrifft, so ist das in den Städten und Städtchen vertretene deutsche Element und verschiedene Handwerker, die Opfer der Agitation geworden und an keinerlei Immobilien gebunden sind, jederzeit zum Ausreisen bereit. In den Dörfern trifft das nur für diejenigen zu, die heruntergekommen und verschuldet sind. Es sind Fälle vorgekommen, daß manche Bauern etwas von ihren Immobilien bereits im Herbst verkauft und ihre Felder nur zum Teil bebaut haben. Andere, die mit unterschiedlichen Gerüchten konfrontiert werden, hegen ihre Zweifel über die künftige Repatriierung, liquidieren deshalb nichts von ihrem Vermögen und warten ab. All diejenigen, denen es wirtschaftlich gut oder zumindest erträglich geht, halten sich abseits und stehen negativ zum Ausreisen aus Litauen, sie meinen, dass sie auch hier gut leben können. (Schreiben des Amtsvorstehers des Kreises Marijampolė, Nr. 19, geheim).

Die Organisierung des Kulturverbandes und Veranstaltung von Mittagessen aus einem Gericht (13) sind Maßnahmen der deutschen Tätigkeit im Kreis Kėdainiai. Um alle deutschen Angelegenheiten kümmert sich hier der Rentner G.Bliumas. Pfarrer Titelbachas (Tittelbach) tritt offiziell nicht auf, aber Bliumas macht nur das, was ihm vom Pfarrer Titelbachas diktiert wird. Der Kulturverband schenkt mehr Aufmerksamkeit den Deutschen, die Kinder haben und bemüht sich auf verschiedene Weise in solchen Familien das Deutschtum aufrechtzuerhalten. (Schreiben des Amtsvorstehers des Kreises Kėdainiai, Nr. 24, geheim).

Im Kreis Kretinga sind derzeit keine Vorbereitungen zu der angeblichen Repatriierung von Deutschen zu verzeichnen. Früher wurde in manchen Menschen von deutscher Orientierung, nachdem sie von einer möglichen Repatriierung gehört hatten, Hoffnung auf eine bessere Zukunft geweckt und sie freuten sich darauf, nach Deutschland umsiedeln zu können. Aber, nachdem sie aus Briefen erfahren hatten, dass die aus anderen baltischen Ländern repatriierten Deutschen dort Armut leiden, haben sie ihre Meinung geändert und geben jetzt vor, gute Litauer zu sein, um bloß nicht auf Grund der Repatriierung nach Deutschland verschleppt zu werden.

Nachdem im Kreis Panevėžys das Gerücht sich verbreitet hatte, dass Deutsche auch aus Litauen repatriiert werden, konnte unter manchen Deutschen von Panevėžys eine gewisse Besorgnis registriert werden. Manche von ihnen, besondes diejenigen, die deutsche Staatsbürger sind (es gibt einige wenige davon), haben Schritte unternommen, die litauische Staatsbürgerschaft zu bekommen. (14) Aber es würde sich auch der eine oder andere Deutsche finden, der das Recht der Repatriierung nutzen würde. Vorbereitungen zu einer Repatriierung waren allerdings nicht zu verzeichnen.

Die Aktivität der deutschen Minderheit tritt im Kreis Raseiniai besonders in der Stadt Jurbarkas und im Dorf Žvyriai, Amtsbezirk Jurbarkas zutage, weil sich dort Abteilungen des deutschen Kulturverbandes befinden, sowie in Lyduvėnai, Amtsbezirk Šiluva. Hier hat die deutsche Aktivität an Stärke zugenommen, als in Lyduvėnai eine

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deutsche Grundschule gegründet wurde und Lehrer Julius Kosmanas (Kossmann) die Leitung der deutschen Tätigkeit übernahm. Derzeit ist Lyduvėnai zu einem Zentrum geworden, in dem sich die gesamte deutsche Aktivität eines breiten Umkreises konzentriert, es wird regelmäßig von deutschen Aktivisten aus Kaunas und anderen Gegenden Litauens besucht. Man vermutet, das die örtlichen Deutschen enge Kontakte zum Ausland haben und von dort entsprechende Anweisungen erhalten.  In der Stadt Raseiniai und in ihrem Umkreis hat der Grundschullehrer Augustas Kremeris (Kremer) (15), der an der deutschen Schule von Raseiniai tätig ist, durch seine Agitationsarbeit auf sich aufmerksam gemacht. Die Aktivität der deutschen Minderheit ist in der letzten Zeit auch in  Kelmė zu verzeichnen. Dort wurde eine geheime Zusammenkunft von Deutschtümlern aufgespürt, auf der militärische Übungen stattfanden.(16) Viele Deutsche haben schon Vorbereitungen zu der vermeintlichen Repatriierung getroffen: haben sich große Flechtkörbe zum Verpacken ihrer Habseligkeiten anfertigen lassen und sich viele für eine Reise erforderlichen Sachen angeschafft. Manche Deutsche hatten bereits angefangen, ihre Immobilien und Mobilien zu verkaufen, halten sich aber in der letzten Zeit damit zurück, verkaufen nichts mehr, im Gegenteil, bemühen sich Mobilien von größerem Wert anzuschaffen, insbesondere Vieh. Außerdem wird allen, die nicht nach Deutschland umsiedeln wollen, Angst gemacht, dass alle hier gebliebenen Deutschen zwangsweise zum katholischen Glauben konvertiert und Litauerinnen, die Deutsche geheiratet haben, aus Litauen nach Deutschland verschleppt würden.

Im Kreis Tauragė ist größere Aktivität der Deutschen in der Stadt Tauragė und in den Amtsbezirken Tauragė, Švėkšna und Naumiestis zu verzeichnen. Hier sind die „Evangeliker“ dichter angesiedelt, folglich sind die Voraussetzungen dafür günstiger. Die deutsche Tätigkeit hat besonders nach dem Anschluss Klaipėdas an das Reich an Stärke zugenommen. Es wird das Gerücht verbreitet, dass Litauen an die Russen fallen werde, die das gesamte Eigentum nationalisieren würden; auf diese Weise würden die an ihrer Spitze stehenden Juden sich an den Deutschen für das Unrecht rächen, das den Juden in Deutschland angetan worden sei. Außerdem wird behauptet, dass die litauische Regierung das in Litauen zurückgelassene Vermögen teuer entschädigen werde und dass in Deutschland die Menschen dafür kostenlos gute Bauernwirtschaften bekommen würden, das Reichwerden sei ihnen also garantiert. Die Gläubigen versucht man mit einem angeblichen Verbot deutscher Gottesdienste zu überzeugen. Der Kulurverband hat seine Tätigkeit in der letzten Zeit bedeutend intensiviert: Buchhandlungen werden gegründet, gesellige Beisammensein, Sportveranstaltungen u.Ä. organisiert.

Im Kreis Vilkaviškis kommt die Aktivität der deutschen Minderheit durch Folgendes zutage: Werbung neuer Mitglieder für deutsche Organisationen, Veranstaltung heimlicher Zusammenkünfte, häufigere Organisierung von legalen Versammlungen, gemeinsamen Essen aus einem Gericht (Eintopf), Teestunden und durch lebhafter gestaltete Tätigkeit des Kulturverbandes. Das ist besonders in den Städten Vilkaviškis, Kybartai, Virbalis und Vištytis sowie in den Gemeinden Kurpikiai und Moliniai des Amtsbezirkes Kybartai, im Dorf Obšrūtai des Amtsbezirkes Pilviškiai zu verzeichnen, wo der größte Teil der Deutschtümler angesiedelt ist. In Vilkaviškis will der Kulturverband mehrere Sportsektionen gründen. Hinsichtlich der vermeintlichen Repatriierung unternehmen die Mitglieder des Kulturverbandes gar nichts, sie warten auf Anordnungen von der Zentralverwaltung; andere wiederum bereiten sich auf die Umsiedlung nach Deutschland vor, indem sie sich Kleidung, Wäsche, Bettzeug u.Ä. anschaffen. Man hat Information, dass auf Grund der vermeintlichen Repatriierung insgeheim Vermögenbestandsaufnahmen gemacht werden. Seit dem 27.2.1940  sprechen die Deutschtümler davon, dass es keine Repatriierung aus Litauen geben werde. Damit sind sehr diejenigen zufrieden, die über Vermögen in Litauen verfügen. 

Im Kreis Rokiškis war keine besondere Aktivität der deutschen Minderheit zu verzeichnen. Im Zusammenhang mit der Repatriierung haben sich einige Menschen um den Wechsel ihrer Nationalität bemüht, indem sie die Eintragung der litauischen Volkszugehörigkeit in ihre Ausweise beantragt haben, mit der Begründung, dass die deutsche Volkszugehörigkeit in ihre Ausweise aus Versehen eingetragen worden war. (17) Hier gibt es überhaupt nur wenige deutsche Familien, die Deutschen sind nicht organisiert.

Im Kreis Alytus ist die Aktivität der deutschen Minderheit ganz schwach. Heimlich werden Listen für die vermeintliche Repatriierung erstellt und die örtlichen Deutschen werden dazu angeregt, sich in die Listen derjenigen einzutragen, die Litauen verlassen wollen. Vorbereitungen anderer Art waren nicht festzustellen.

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In den Kreisen Biržai, Mažeikiai, Šiauliai, Švenčionėliai, Telšiai, Trakai, Ukmergė, Utena, Vilnius und Zarasai konnten keine Aktivitäten der deutschen Minderheit registriert werden. Der Amtsvorsteher des Kreises Telšiai hat trotz dringender Anforderung von Informationen bis jetzt immer noch keine Antwort gegeben.

Insgesamt ist zu bemerken, dass derzeit in Litauen 14 deutsche Vereine  legal funktionieren. Zwar haben sie sich nicht formell zu einer zentralen Organisation zusammengeschlossen, aber tatsächlich werden sie von der größten deutschen kulturellen Organisation in Litauen dirigiert, die den Namen Kulturverband trägt. Jene Vereine sind weder von großer Bedeutung, noch üben sie irgendeinen Einfluss auf unser Leben aus, ihre Mitgliederzahl ist beständig, und wenn sie sich etwas vergrößert, oder reduziert, dann geschieht das natürlich, auf die übliche Weise. Sie sind mit ihrer spezifischen Tätigkeit beschäftigt und unternehmen nichts, was die Einheit bzw. die Kräfte der Deutschen spalten könnte. Charakteristisch ist, dass deutsche Organisationen die Arbeits- und Tätigkeitsbereiche unter sich klar aufgeteilt haben. Anspruch auf die Interessenvertretung angeblich aller Deutschen in Litauen erhebt und konkrete Schritte diesbezüglich unternimmt der Deutsche Kulturverband Litauens; in dieser Hinsicht teilt sich dieser Verein eine Sonderposition zu. Die Mitgliederzahl des Kulturverbandes ist (wie das aus der oben angeführten Tabelle ersichtlich ist) in kurzer Zeit unerhört angestiegen, z.B. von 2045 am 21.7.1939 auf 9678 am 15.2.1940, das heißt um 424,4 % und mancherorts (in manchen Abteilungen) hat der Beitritt neuer Mitglieder zum Kulturverband sogar einen phantastischen Prozentsatz von 9245 % erreicht (in Kaupiškis, Kreis Vilkaviškis ist die Mitgliederzahl von 20 am 21.7.1939 auf 1845 am 15.2.1940 angestiegen).  Die Tendenz der Mitgliederzahl ist auch weiterhin steigend. Solch ein rasches sich Vereinigen von Deutschen zu einer kompakten Masse erweckt unter den Menschen eine ernsthafte Besorgnis und mancherorts sogar Unruhe.



Der aus dem Jahre 1939 stammende Text, Protokoll einer Behördenkonferenz:

 

(unbetitelt)

 

Am 7. Juni 1939 wird von den Vertretern interessierter Behörden, nachdem sie sich mit dem Material über die Tätigkeit des Kulturverbandes der deutschen nationalen Minderheit in Litauen bekannt gemacht haben, Folgendes festgestellt:

  1. Auf Anordnung des VDA (Verein des Deutschtums im Ausland) hin richten sich alle in Litauen funktionierenden deutschen Organisationen vom Januar 1939 an nach den Grundlagen der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei). Das Zentrum der gesamten deutschen Tätigkeit in Litauen bleibt der Kulturverband, in den alle anderen deutchen Organisationen integriert und als seine Tochterorganisationen funktionieren werden.

  2. Die Leitung des Kulturverbandes ist zur Zeit besonders darum bemüht, die Bildung der örtlichen Deutschen zu fördern, ihre nationale Identität zu festigen und die Zahl deutscher Schulen im Lande zu vergrößern. An den Abteilungen des Kulturverbandes wurden Ausschüsse gebildet, die sich um die Angelegenheiten deutscher Schulen kümmern sollen.

  3. Geldmittel werden den zur Zeit funktionierenden deutschen Schulen von den in Kaunas bestehenden offiziellen deutschen Institutionen über den VDA zur Verfügung gestellt. Der Kulturverband ist sehr darum bemüht, mehr deutsche Schulen zu gründen, die vom VDA unterhalten werden. Der Kulturverband hat sich mit der Bitte um eine solche materielle und moralische Unterstützung an den VDA bereits gewandt.

  4. Bei der Erfüllung seiner Aufgaben unterhält der Kulturverband sehr enge Beziehungen zum VDA des Reiches, der die Tätigkeit des Kulturverbandes überwacht und kontrolliert, den Kulturverband finanziell unterstützt, mit Büchern versorgt, Geldmittel für Stipendien deutscher Studenten in Litauen zum Studium in Deutschland, aber auch an litauschen Universitäten zur Verfügung stellt.

  5. Besondere Aufmerksamkeit der Leitung des Kulturverbandes gilt deutschen Jugendorganisationen des Kulturverbandes (Volksjugend). Dieses Jahr will man die Mitgliederzahl der Jugendorganisationen von 700 auf 2000 erhöhen. Zu diesem Zweck hat der Jugendleiter den VDA um Unterstützung gebeten.

  6. Eine Organisation, die junge Mädchen (bis zu 25 Jahren) vereint, ist schon früher gegründet worden. Im Zuge der Erweiterung der Tätigkeit des Kulturverbandes wurde dieses Jahr am Kulturverband auch eine Gruppe von älteren deutschen Mädchen mit einem Gruppenleiter an der Spitze organisiert. Und in der letzten Zeit wird eine zweite Gruppe von verheirateten Frauen gebildet. Die Aufgabe dieser Organisationen ist allseitige kulturelle Förderung im deutschen Geiste.

  7. Die Leitung der Jugendorganisation des Kulturverbandes plant mit Unterstützung durch den VDA Bildungskurse, eine Tagung von Jugendlichen, Reisen in Litauen, Ferienlager, Feiern am Lagerfeuer. Diese Veranstaltungen werden zum Teil von dem VDA finanziert, der seinerseits Vertreter entsenden wird, die genanten Veranstaltungen zu beobachten. Das Ziel der Veranstaltungen ist, das Gefühl der deutschen Zusammengehörigkeit zu festigen, deutsche Lebensbedingungen, die allgemeine Lage, Ziele und Aufgaben zu erläutern.

  8. Zur Festigung des Deutschtums vor Ort werden die Vertreter der deutschen nationalen Minderheit auch zu bestimmten Veranstaltungen nach Deutschland eingeladen. Dort werden ihnen nationalsozialistische Ideologie und Theorien eingeschärft.
    Dieses Jahr findet in Deutschland:
    1) ein Musikferienlager,
    2) Kunstfeierlichkeiten in Bayreuth und
    3) Sommerkurse an der Universität Marburg für die im Ausland lebenden Deutschlehrer statt. Die Kosten werden vom VDA getragen. Die Vorlesungen an den für die Lehrer bestimmten Sommerkursen weisen deutlich politischen Charakter auf.

  9. In der letzten Zeit ist festzustellen, dass Gebilde innerhalb des Kulturverbandes gänzlich nach dem Muster von Organisationen der NSDAP gegründet werden: SA, Ordnungsdienst und Arbeitsdienst. Sowohl SA als auch Ordnungsdienst haben sogar ihre eigene Uniform. Die Einen wie die Anderen erscheinen auf den Versammlungen der deutschen nationalen Minderheit uniformiert. Der Arbeitsdienst wird deutschen Bauernwirtschaften in der Sommerhochsaison behilflich sein. Die genannten Organisationen richten sich nach dem Grundsatz einer strengen Unterordnung unter den Anführer.

  10. Zur Zeit werden deutsche Landwirte in der Provinz von Instruktoren aufgesucht, die registrieren, wie viele Arbeiter entsprechende Landwirte für die Feldarbeiten benötigen. Dafür werden den Landwirten Mitglieder des Arbeitsdienstes vom Kulturverband zur Verfügung gestellt.

  11. Die deutsche nationale Minderheit agiert überwiegend an Orten ihrer Gebilde. Man veranstaltet Versammlungen, Zusammenkünfte, sportliche Veranstaltungen, Feiern, es werden neue Mitglieder für die Organisationen geworben und für deutsche Nationalität agitiert. In allen genannten Fällen, insbesondere auf Versammlungen wird deutsche Propaganda auf Kosten des Litauertums betrieben.

  12. Propaganda für die deutsche Nationalität, die durch deutsche Agenten betrieben wird, hat den frechsten und niederträchtigsten Charakter angenommen: die Agenten versuchen Litauer evangelischen Glaubens, deren nationales Bewusstsein schwach ist, zu überzeugen, dass sie in der Tat keine Litauer, sondern Deutsche seien und deswegen auch als Deutsche bezeichnet werden, d.h. ihre Nationalität als deutsch eintragen lassen sollten; dass Litauer evangelischen Glaubens und Deutsche, die sich passiv verhalten, für das Fernbleiben von der deutschen Gemeinde und deren Tätigkeit mit Hitlers Rache rechnen müssten, wenn Litauen von Deutschen besetzt wird. Während ihrer Streifzüge durch Dörfer und Einzelgehöfte stecken die Agenten extra im Voraus dazu vorgesehenen Personen und Familien Anträge auf den Wechsel der Volkszugehörigkeit zum Unterschreiben zu. Dazu werden Menschen mit sehr geringer Bildung ausgesucht, die nicht gut schreiben können. Um ihnen die Unterschrift abzuzwingen wird der Inhalt des Antrages häufig vorgelogen. Es ist eine ganze Reihe von Vorfällen festgestellt worden, wenn zum Wechsel der Volkszugehörigkeit den Behörden durch deutsche Agenten gefälschte Unterschriften vorgelegt wurden. (Gegen solche Handlungen deutscher Agenten läuft ein Ermittlungsverfahren.)

  13. Eine ebenso große Aktivität wird von deutschen Agenten auch für den Beitritt zu deutschen Organisationen betrieben. Damit für potentielle Mitglieder deutscher Organisationen keine eventuellen Unkosten entstehen, werden sie nicht selten zwar in die Mitgliederlisten des Kulturverbandes eingetragen, aber von der Teilnahme an Versammlungen und sonstiger öffentlichen organisatorischen Arbeit befreit. Solche Mitgliedschaft im Kulturverband gilt als geheim.

  14. Die gesamte deutsche Tätigkeit in Litauen wird von Deutschland finanziert über den VDA und die in Kaunas bestehenden offiziellen deutschen Institutionen. Mit deutschen Geldern werden auch deutsche Schulen unterhalten, Organisationskosten gedeckt und Monatsgehälter bis zu 500 Litas an mehr als zehn Mitwirkende des Kulturverbandes gezahlt.

  15. Zur Gewährleistung eines permanenten Kontaktes zwischen den offiziellen Institutionen in Deutschland und den Organisationen der deutschen nationalen Minderheit in Litauen und sonstiger Bequemlichkeit halber wurde dem Kulturverband in der Deutschen Botschaft zu Kaunas ein Raum zur Verfügung gestellt worden, wo wichtige und geheime Angelegenheiten des Kulturverbandes geregelt und erledigt werden.

  16. Neulich ist eine Philistersektion des Kulturverbandes gegründet worden, die den Namen des in Litauen gefallenen jungen Soldaten „Ernst Wurche“ trägt. Das Ziel der Sektion ist, alle deutschen Akademiker (als solche gelten nicht nur diejenigen, die einen Hochschulabschluss haben, sondern auch solche, die das Hochschulstudium abgebrochen haben) zu vereinen, deren Aufgabe sein wird, Vorlesungen zu halten, Zeitungsartikel zu schreiben und Mitglieder für deutsche Organisationen zu werben. Außerdem werden sie bedürftigen studierenden Deutschen finanziell und beratend zur Seite stehen müssen. Eine weitere Aufgabe der Sektion ist, den Universitätsabsolventen auf ihrer Suche nach einer Anstellung in der Rolle von Vermittlern behilflich zu sein.

Die genannten Tatsachen liefern ausreichend Beweis dafür, dass die Tätigkeit des Kulturverbandes als Organisation der deutschen nationalen Minderheit in Litauen, die besonders von dem VDA und anderen offiziellen deutschen Institutionen unterstützt wird, in der letzten Zeit an Aktivität stark zugenommen hat. Diese Tätigkeit läuft oft gewissen administrativen Bestimmungen zuwider und erhält illegalen Charakter. Es entsteht der Eindruck, dass die Tätigkeit des Kulturverbandes, der Organisation der deutschen nationalen Minderheit in Litauen, für den litauischen Staat immer gefährlicher wird, deshalb müssen entsprechende Schritte eingeleitet werden, einer solchen Tätigkeit Einhalt zu gebieten und ihrem Einfluss, den sie auf die Einwohner Litauens ausübt, organisatorische kulturelle Maßnahman entgegenzusetzen. Zu diesem Zweck wäre Folgendes erforderlich:

  1. Die Tätigkeit der litauischen evangelischen Organisation soll verstärkt und erweitert werden.

  2. Die Grundschullehrer sind dazu zu verpflichten, kulturelle Initiative den Aktionen des Eindeutschens entgegenzusetzen.

  3. Es sollen Kontakte zu anderen kulturellen Organisationen hergestellt werden, die ebenfalls eine größere antideutsche kulturelle Aktivität entfalten sollten.

  4. Die gesamte antideutsche Aktivität ist auch mit Hilfe litauischer evangelischer Pfarrer lebhafter zu gestalten.

  5. Es wäre gut, entsprechende Aktivität auch in der litauischen evangelischen Presse zu betreiben.

  6. Gegen die Tätigkeit des Kulturverbandes und deren Ziele sollte entsprechende Aktivität in der gesamten litauischen Presse betrieben werden.

  7. Gegen alle widerspenstigen Deutschen, die entsprechende Agitation betreiben und an der staatsfeindlichen Tätigkeit beteiligt sind, sollten systematisch wirtschaftliche Sanktionen eingesetzt werden.

  8. Da die Einwohner des Landes Klaipėda (Memelland), nachdem das Land von Deutschen besetzt worden ist, enttäuscht sind, weil die deutsche Regierung nicht nur ihre politische, sondern auch ihre wirtschaftliche Freiheit eingeengt hat, sollte dass hierzulande in Versammlungen hervorgehoben und erläutert werden, besonders in den Orten, wo deutsche Agitation betrieben wird.

  9. Da unter den Deutschen in Litauen ebenfalls gewisse Unstimmigkeiten bestehen, z.B. die alten örtlichen Deutschen zeigen ihre Unzufriedenheit gegenüber den Bemühungen, die deutsche evangelische Kirche in eine nationalsozialistische Kirche zu verwandeln, die diese Ideologie verkünden und verbreiten soll, und da sie überhaupt nicht ganz klar auf der Seite des Nationalsozialismus stehen, sollte man versuchen, diese Tatsache zu nutzen. Vielleicht sollte der Versuch unternommen werden, parallel eine andere deutsche Organisation zu gründen, um dadurch die Macht und den Einfluss bestehender deutscher Organisation zu schwächen.

  10. Das Problem der deutschen Aktivität scheint auch in Lettland und in Estland aktuell zu sein, daher wäre es wahrscheinlich sinnvoll, sich vor Ort damit bekannt zu machen, wie dort gegen die deutsche Tätigkeit und den deutschen Einfluss gekämpft wird.

Zur Verstärkung und Erweiterung der antideutschen Aktivität sollte unseres Erachtens ein spezielles Organ gebildet werden, das Vertreter entsprechender Behörden vereinen würde. Am Sinvollsten wäre es am Innenministerium zu gründen, und es sollte sich aus Vertretern des Innenministeriums, des Bildungsministeriums und des Außenministeriums zusammensetzen. Dieses Organ bzw. Ausschuss könnte bei Bedarf auch mehr erforderliche Personen zur Mitarbeit heranziehen.


Footnotes

(1) Entsprechend der Curzon-Linie vom 8.12.1919, bevor Polen nach Wilna (1920) ausgriff. Das umfangreiche Gut der Baronsfamilie von der Ropp bei Panėvežys mit seinem etwas verfallenen Schlößchen, das heute eine staatlich-litauische landwirtschaftliche Lehranstalt ist, bildet den anderen Typus – adeligen Großgrundbesitz. (Diese Familie verfügte über drei Güter von insgesamt 482 ha. Ein Bruder von der Ropp, Oberstaatsanwalt in Memel, wurde als Angeklagter in den großen Memelprozess von 1934-35 hineingezogen). Die Landreform von 1923 sah, nach einigen Mißerfolgen, zum Schutz der Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft eine maximale Bewirtschaftungsfläche von ca. 150 ha vor, wobei 75 ha in Eigenbesitz verbleiben durften, während weitere 75 ha vom ursprünglichen Besitz zurückgepachtet werden durften.

(2) 10 Litas entsprachen 1 US-$; 2,50 Litas entsprachen 1 Reichsmark.

(3) Die 1923 in Litauen begonnene Landreform sollte den Einfluss der polnischen Gutsbesitzer als „Zentren der Polonisierung“  auf die ländliche Bevölkerung ausschalten.

(4) Heute freilich, möchte der Autor (KF) anmerken, ist es eher umgekehrt: Fremde Staaten erheben geistigen und politischen Vertretungs- und Führungsanspruch gegenüber ihren Staatsbürgern, oder deren eingebürgerten Kindern, die zahlreich bei uns leben. Assimilation wird da gerne als ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet. --- Seit dem 27.10.1933 befanden sich „sämtliche Fragen des Deutschtums jenseits der Grenzen“ von einem Volksdeutschen Rat koordiniert – unter der direkten Aufsicht des Führerstellvertreters Rudolf Hess (vgl. ‚Verfügung. 1 / Sämtliche Fragen des Deutschtums jenseits der Grenzen…’ – s. LCVA F. 648 Ap. 1 B. 50, S.277). Der Volksbund („überstaatlich, volksdeutsch und eigenständig“) war bewusst keine offizielle Parteistelle, wurde jedoch als Transmissionsriemen des „über Staatsgrenzen hinwegreichenden deutschen Volksgedankens“ eingesetzt: „Das neue Reich, das sich nach dem Willen des Führers aus dem Volkstum heraus rechtfertigt (…) hat auch dem VDA weitesten und freiesten Raum für seine Arbeit der Bindung und der Bildung der Volksgemeinschaft gewährt. Der Stellvertreter des Führers und viele hervorragende Persönlichkeiten der Bewegung sind Auslandsdeutsche (…). Daher haben sie auch aus besonderem Vertrauen dem Volksbund eine besondere vom Staat und der NSDAP völlig unabhängige Stellung gewährt.(…) Die Auslandsdeutschen sind vollberechtigte und gleich wertvolle Mitglieder der deutschen Volksgemeinschaft; die auslandsdeutschen Volksgruppen haben, jede an ihrem Platz und der Eigenart ihrer Umgebung angepasst, in Loyalität zu ihrem Staatsvolke wichtige Aufgaben des gesamtdeutschen Volkskörpers zu erfüllen (…).“ Rundschreiben des VDA-Hauptreferenten für Übersee Dr. Johannes W. Mannhardt (s. LCVA F. 648 Ap. 1 B. 50, S. 273 f.). Der VDA wurde in seinen Aufgaben vom Deutschen Auslandsinstitut unterstützt, während für im Auslande lebende reichsdeutsche Parteigenossen der Gau Ausland der NSDAP in Hamburg zuständig war.

(5) Über die Struktur und die Prioritäten des seinerzeitigen litauischen Staatsschutzes s. Aufsatz Das Image der ethnischen Minderheiten… des Autors (KF) in den Annaberger Annalen Nr. 11 / 2003 (s. www.annaberger-annalen.de). Finanzielle Zuwendungen aus dem Ausland wurden im litauischen Vereinsgesetz von 1935 verboten, offensichtlich um die Organisationen widerspenstiger Minderheiten finanziell auszubluten. 1938 verfügte der Kulturverband über ca. 2500 Mitglieder, davon 500 in Kaunas. Spätestens seit dem 19.10.1934 gehörte der Leitung des KV mindestens ein Informant des litauischen Staatsschutzes an, was der Organisation bewusst war und zu periodischen hektischen aber erfolglosen Suchen führte. Die Organisation muss, nach dem Nachrichtenaufkommen in litauischen Akten, als gründlich mit Spitzeln durchsetzt gelten. – vgl. Staatsschutz-Akte LCVA F. 378 Ap. 10 B. 57 „VSP-Agenturmeldungen 19.10.1934 – 14.12.1938“, 418 Blatt.

(6) Während des Jahres 1939 war der Kulturverband Admiral Canaris und seinem Stellvertreter Piekenbrock (Leiter der Abwehr-Gruppe I – Geheimer Meldedienst) übrigens einen kurzen Besuch wert, als beide während einer Flugreise in Kaunas zwischenlandeten. Der litauische Staatsschutz, der in seinem Wissen und seinen Methoden völlig auf der Höhe seiner Zeit war, beschattete beide (unter dem Decknamen „Svarbus“ – ein Wichtiger), konnte jedoch über den Zweck ihrer Visite nichts herausfinden.

(7) Er fiel am 9.10.1934 gemeinsam mit dem jugoslawischen König in Marseille einem von der kroatischen Ustaša-Bewegung verübten Attentat zum Opfer.

(8) Bekannt etwa ist, dass die Studentin Minutaitė im Auftrag der Kulturverband-Leitung im Verlauf des Jahres 1934 mehrfach Untersuchungshäftlinge aus dem Memelgebiet im Gefängnis besuchte, die in Erwartung des Neumann-Sass-Prozesses einsaßen, und sich nach deren Befinden erkundigte, die Hilfe des KV bei Besorgungen etc. anbot. --- Als besondere Störenfriede galten der litauischen Staatsmacht die Brüder Richard und Julius Kossmann aus der Führungsriege des KV. Richard Kossmann, der nachmalige KV-Geschäftsführer, war hauptberuflich Lehrer an einer KV-Privatschule in Lydavėnai. Daneben schrieb er für die ‚Deutschen Nachrichten für Litauen’, deren (wöchentliche?) Auflage 2000 Exemplare erreichte. Er wurde für die Dauer des Memelprozesses vorübergehend im Administrativverfahren aus Kaunas augewiesen.

(9) Die sowjetischen Diplomaten Karskij und Terleckij kritisierten freilich das litauische Vorgehen später sehr heftig: Man habe den Kampf gegen den Nazismus nicht zu einem Kampf gegen das Memeler Deutschtum machen dürfen. Statt maßvoller Politik habe man sich nun alle dortigen Deutschen zu Feinden gemacht.

(10) Im Grunde prätendierte man schon damals (um 1935) auf beide Ufer des Memelstromes. Die industrialisierte, Agrar-technisierte Welt die man sich vorstellte, den Blick des litauischen Unternehmers zum Meer (ein Typus der erst noch im Entstehen war) veranschaulicht das zeitgenössische Plakat „Skaityk Tautos Ūkį“ des Künstlers Adomas Smetona. – s. Juozas Galkus. Senasis Lietuvos Plakatas 1862 – 1944. Vilnius (Vilniaus dailės akademijos leidykla) 1997, S. 154.

(11) Der Memelprozess, in dem am 26.3.1935 ein Militärgericht in Kaunas Urteile über die Parteigänger der beiden Memeler NS-Parteien Sozialistische Volksgemeinschaft (die Partei des Amtsveterinärrates Dr. Ernst Neumann) und Christlich-Soziale Arbeitsgemeinschaft (des Pastor Theodor von Sass) sprach, reflektierte z.B. in Zeitpunkt und der Härte der verhängten Urteile offenbar die deutsche Wiederbewaffnung (16.3.1935) und ein anstehendes britisch-deutsches Flottenabkommen (18.6.1935). Nicht zuletzt die weit gespannten imperialen Interessen Großbritanniens legten nahe, einen europäischen Konflikt wenn nicht zu vermeiden, so wenigstens hinauszuschieben.  Insbesondere Frankreich war zu diesem (1935) Zeitpunkt an einem antinazistischen und antiseparatistischen Fanal für Europa interessiert, während der britische Außenminister Sir John Simon noch unmittelbar vor dem 26.3. einen Besuch in Berlin absolviert hatte. Der litauische vorsitzende Richter wurde bequemer Weise für zwei Wochen erkrankt.

(12) Die litauische staatliche Sichtweise, versteht sich – KF. 

(13) Eintopfessen. Das bekannte solidarisch-kollektive „Opferessen des Reiches“ , das die Volksgemeinschaft festigen sollte – KF.

(14) Es könnte sich um politisch Missliebige (aus dem Altreich oder Österreich) handeln, die eine Nische und ein Auskommen im Ausland fanden. Aber das ist Spekulation. – KF.

(15) Kremer war Lehrer an einer vom KV unterhaltenen Schule in Raseiniai. Er wird bereits am 6.3.1934 in einer Staatsschutz-Meldung des VSP-Bezirks Šiauliai erwähnt (Bulletin Nr. 64). Der KV litt 1934 sehr unter dem Umstand, dass die Kriegskommandanten der Kreise Versammlungserlaubnisse für die Deutschen nur restriktiv gewährten („…wir können uns nicht oft sehen, weil wir behindert werden“). (Es herrschte Kriegsrecht und genehmigte Versammlungen fanden im Beisein der Polizei statt, welche die Einhaltung der genehmigten Themen überwachte und Berichte schrieb.) Kremer wollte seinerzeit ein Wohnheim für Schüler aus der weiteren Umgebung einrichten, wurde jedoch von dem als Schulinspektor des KV die Provinz bereisenden Konstantin Cerpinsky unterrichtet, dem KV fehle es an Geld, seit aus dem Deutschen Gymnasium in Kaunas die jüdischen Schüler ausgetreten seien. (s. Aufsatz des Autors – KF - in Annaberger Annalen Nr. 11 / 2003, S. 87. –  www.annaberger-annalen.de).

(16) Dieser Vorwurf taucht bereits im Memelgebiet der Jahre 1933-1934 auf und bezieht sich dort auf HJ-ähnliche Aktivitäten mit Exerzieren, Geländeübungen, Märschen, Verwendung von aus dem Reich bekannten Uniformteilen (z.B. den verbotenen Schulterriemen) oder eben der typischen Ersatzuniformierung von schwarzer Hose und weißem Hemd, was dort häufig zu Konflikten mit der (zentralstaatlichen) Grenzpolizei führte. In Altlitauen wurde Probst Tittelbach angeschuldigt, unter dem Vorwand religiöser Jugendarbeit die litauendeutsche Jugend zu indoktrinieren und zu organisieren. – KF. 

(17) In Wirklichkeit hatten die Behörden des litauischen Tautininkai-Staates alles unternommen, um den Eintrag nichtlitauischer Volkszugehörigkeit in Identitätspapiere zu vermeiden und machten generell so viele Minderheitenangehörige wie möglich (Polen, Deutsche) behördlich zu Litauern. Es sollte damit der Minderheitenanteil im Land bewusst herabgedrückt werden und insbesondere dem Schulunterricht und dem Gottesdienst in einer nichtlitauischen Muttersprache, Bastionen der Identität, die formale Grundlage entzogen werden. – KF.

 

 

 End of original publication.


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